Sommer 1945 Potsdam und der Deal um Reparationen, Grenzen und Vertreibungen
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09. August 2020, 05:00 Uhr
In Potsdam treffen sich im Sommer 1945 die drei alliierten Hauptsiegermächte zu ihrer großen Siegeskonferenz. Es ist nicht das erste Treffen der "Großen Drei". Misstrauen hat die einstige "Freundschaft" verdrängt. Eine Einigung scheint unmöglich. Aber dann kommt doch noch ein Deal zustande. Es geht um milliardenschwere Reparationen, Grenzverschiebungen und die Vertreibung von Millionen Deutschen.
Um die Harmonie der "Großen Drei", die sich im Sommer 1945 in Potsdam zusammenfinden, war es schon mal besser bestellt. Ende 1943 zum Beispiel: In der iranischen Hauptstadt Teheran treffen sich Josef Stalin, US-Präsident Franklin D. Roosevelt und der britische Premier Winston Churchill. Die Stimmung ist gut. Die Alliierten haben in der Sowjetunion, in Nordafrika und in Italien große Siege errungen. Das Ende des Krieges gegen Deutschland ist nur noch eine Frage der Zeit. Churchill bringt einen Toast auf "den großen Stalin" aus, der nennt den Briten seinen "großen Freund". Man einigt sich auf eine Zerstückelung Deutschlands und die Westverschiebung Polens.
20 Milliarden Dollar an Reparationen
Beim nächsten Treffen der drei alliierten Staatschefs im Februar 1945 im Krim-Kurort Jalta sind die Teilungspläne für Deutschland eher vage. Polen soll aber immer noch nach Westen verschoben werden. Die Sowjets sagen zu, dass die von ihnen in Warschau eingesetzte kommunistische Regierung mit Exil-Polen aus dem Westen zu einer "Regierung der nationalen Einheit" erweitert werden soll. Die von den Deutschen zu zahlenden Reparationen werden von Roosevelt auf 20 Milliarden US-Dollar taxiert. Das sind nach heutiger Kaufkraft etwa 284 Milliarden Dollar. Die Sowjetunion soll davon die Hälfte erhalten. Eine Nachkriegskonferenz soll später klären, wie es mit dem besiegten Deutschland weitergeht.
Misstrauen beherrscht Konferenz
Im Sommer 1945 ist es dann soweit: Im Potsdamer Schloss Cecilienhof treffen sich die Staatschefs der drei alliierten Hauptsiegermächte am 17. Juli zu ihrer großen Siegeskonferenz.
Die Atmosphäre hat sich seit Teheran und Jalta deutlich abgekühlt. Misstrauen herrscht auf allen Seiten. Churchill sieht den sowjetischen Machtzuwachs in Mitteleuropa mit großer Sorge. Er hat Angst, dass die Amerikaner die Briten in Europa allein mit den "Russen" zurücklassen. Stalin hingegen fühlt sich von den Westalliierten verraten, seitdem diese im März in der Schweiz mit hohen SS-Führern über eine deutsche Kapitulation in Italien verhandelt hatten. Als der im April als Nachfolger des verstorbenen Roosevelt ins Weiße Haus eingezogene neue US-Präsident Harry S. Truman zum Kriegsende am 8. Mai die Hilfslieferungen an die Sowjetunion stoppt, spricht Stalin von einem "unfreundlichen Akt".
Truman will "demokratisches" Polen
Auch in anderen Punkten unterscheidet sich Truman von seinem Vorgänger. Hatte sich Roosevelt in Jalta damit zufrieden gegeben, dass die kommunistische Regierung in Warschau um bürgerliche Kräfte erweitert werden soll, versucht der neue Mann im Weißen Haus eine nach westlichen Vorstellungen demokratisch gewählte Regierung in Polen durchzusetzen. Er und Churchill werfen Stalin vor, die Jalta-Vereinbarungen hinsichtlich Polens nicht eingehalten zu haben.
Polnische Verwaltung über Ostdeutschland
Auch die vereinbarte Westverschiebung Polens wird ein Streitthema. Für das von der Sowjetunion okkupierte Ostpolen soll Warschau mit dem Süden Ostpreußens, mit Hinterpommern, der Neumark und Schlesien entschädigt werden. Die Fakten zur Okkupation haben die Sowjets längst geschaffen und die Gebiete unter "polnische Verwaltung" gestellt. Angeblich würden dort kaum noch Deutsche leben, so ihr Argument. Doch das ist eine Lüge. Schätzungen zufolge sind bis Kriegsende "nur" etwa die Hälfte der ursprünglich zehn Millionen Einwohner aus den deutschen Ostgebieten geflohen. Die andere Hälfte ist noch da, wird aber mittlerweile von den polnischen Kommunisten schikaniert und vertrieben.
Streit um Oder-Neiße-Linie
Stalin fordert die Oder-Neiße-Linie als neue polnische Westgrenze. Churchill wendet ein, die Umsiedlung von drei bis vier Millionen Ostpolen rechtfertige nicht die Vertreibung der doppelten Anzahl von Deutschen. Zudem argumentieren er und Truman, dass der Verlust der ostdeutschen Agrargebiete die Lebensmittelversorgung in Deutschland verschärfen werde. Truman droht mit Blick auf die De-facto-Besetzung der Ostgebiete des Deutschen Reiches durch die Nicht-Siegermacht Polen, es werde schwer, sich über eine gerechte Lösung der Reparationsfrage zu einigen.
Sowjets auf Reparationen angewiesen
Damit trifft er bei Stalin einen wunden Punkt. Die Sowjetunion braucht die ihr in Jalta in Aussicht gestellten zehn Milliarden US-Dollar, um ihre zerstörte Wirtschaft wieder aufzubauen. Truman und Churchill wollen aber von festen Reparationssummen mittlerweile nichts mehr wissen. Unter dem Eindruck der Zerstörungen in Deutschland bezweifeln sie, dass das Land derartige Summen jemals aufbringen kann. Die Kuh, die man melken wolle, müsse auch gefüttert werden, so ihr Argument. Dahinter steckt kein Mitleid für die Besiegten, sondern die Furcht, dass man ein Deutschland, dass nicht wieder auf die Beine kommt, am Ende selbst versorgen muss.
Angst vor der Hälfte von Nichts
Eine einvernehmliche Lösung mit Stalin in der Reparationsfrage erscheint schwierig. Die Sowjets wollen sich nicht auf komplizierte Entnahmequoten einlassen, bei denen auch noch Versorgungs- und Besatzungskosten gegengerechnet werden sollen. Sie vermuten hinter den US-Vorschlägen "miese imperialistische Tricks", bei denen sie am Ende mit der Hälfte von Nichts dastehen könnten. Potsdam droht ohne Einigung zu Ende zu gehen. Doch dann schlägt US-Außenminister James F. Byrnes seinem sowjetischen Amtskollegen Wjatscheslaw Molotow einen Deal vor, der es in sich hat. Statt sich über die Höhe und die Modalitäten der Reparationen zu streiten solle man lieber das Reparationsgebiet teilen. Jede Siegermacht solle dann aus ihrer Besatzungszone das an Reparationen entnehmen, was sie für notwendig halte.
Lausitzer Neiße statt Glatzer Neiße
Um die Sowjets für den Vorschlag zu gewinnen, sagen die USA zu, der westlichen Variante der Oder-Neiße-Grenze zuzustimmen. Bis dahin war es in den Verhandlungen eher um die Grenzziehung entlang der östlichen - Glatzer - und nicht der westlichen - Lausitzer - Neiße gegangen. Damit wäre der größte Teil Niederschlesiens deutsch geblieben. Im Falle der Oder nehmen es die Alliierten ohnehin nicht so genau mit dem Begriff "Oder-Neiße-Grenze". Stettin und Swinemünde an der Odermündung werden ebenfalls Polen zugeschlagen, obwohl beide Städte westlich des Flusses liegen. Im Potsdamer Abkommen wird auch die bereits zuvor erfolgte sowjetische Okkupation Nord-Ostpreußens mit Königsberg abgesegnet.
15 Millionen Vertreibungen "genehmigt"
Für die ehemals zehn Millionen Menschen in den deutschen Ostgebieten bedeutet das am 2. August 1945 veröffentlichte Kommuniqué die endgültige Vertreibung aus ihrer Heimat. Ganz nebenbei "genehmigen" die drei Siegermächte in Potsdam auch die Vertreibung von bis zu fünf Millionen Deutschen aus der Tschechoslowakei, aus Ungarn und anderen Ländern Mittel- und Osteuropas. Zwar soll die Frage der endgültigen Grenzziehung später offiziell durch einen "Friedensvertrag" mit Deutschland geregelt werden. Jedoch wird ein Viertel des deutschen Staatsgebietes von 1937 faktisch bereits 1945 annektiert.
Der Osten zahlt die Rechnung
Zudem wird mit der in Potsdam beschlossenen Teilung des Reparationsgebietes Deutschland auch wirtschaftlich in zwei Hälften gespalten. Die "wirtschaftliche Befreiung der Westzonen", so der Historiker Hermann Graml, ging dabei "zu Lasten der Bewohner der Sowjetischen Besatzungszone, die nun nahezu allein die sowjetischen Reparationsansprüche zu befriedigen hatten".
"Tragödie von ungeheurem Ausmaß"
Die Unterschrift von Churchill fehlt auf dem Potsdamer Kommuniqué. Der siegreiche Kriegspremier verliert überraschend die Nachkriegswahlen zum britischen Unterhaus. Am 28. Juli wird er in Potsdam durch seinen Nachfolger Clement Attlee von der Labour Party ersetzt. Mit dem Ex-Gewerkschafter, den Churchill ein "Schaf im Schafspelz" nennt, haben Truman und Stalin leichtes Spiel. Churchill selbst bezeichnet am 16. August 1945 im Unterhaus die Potsdamer Beschlüsse als eine "Tragödie von ungeheurem Ausmaß", denen er nicht zugestimmt hätte.
Churchills letzter Sieg
Für Stalin, von dem Chruchill einst gesagt hatte - "Ich mag diesen Mann" - empfindet der Brite mittlerweile nur noch Furcht und Ablehnung. Immerhin: Ein letzter großer Erfolg ist ihm gegen "Uncle Joe", wie Briten und Amerikaner Stalin nennen, noch vergönnt. Nachdem bei den abendlichen Potsdamer Banketten Truman zunächst ein Klavierduo und Stalin daraufhin zwei gewichtige Violinvirtuosinnen und zwei Pianisten aufbieten, lässt Churchill bei seinem Bankett gleich die gesamte Royal Air Force Band stundenlang aus allen Instrumenten "feuern". Nun hat er Stalin endlich dort, wo er ihn die ganze Konferenz lang haben wollte - in der Rolle des Bittstellers. Immer wieder fragt der sowjetische Diktator, ob die Kapelle nicht etwas "Leichteres" spielen könnte und bittet um eine ruhige Melodie. Vergebens. Es ist Churchills letzter Sieg.