Nische im System Private Landwirtschaft in der DDR – eine Nische in den LPGs
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08. Juni 2023, 05:00 Uhr
Am 8. Juni 1952 wurde im thüringischen Merxleben die erste LPG der DDR gegründet. Die Beitritte, anfangs noch freiwillig, wurden mit der Zeit immer drastischer erzwungen. 19601 gab kaum noch Privatbauern in der DDR. Was viele aber nicht wissen: Einen halben Hektar Land durften DDR-Bauern nach ihrem LPG-Beitritt weiter in Eigenregie bewirtschaften, ebenso eine bestimmte Anzahl von Tieren halten. In dieser privaten Nische, nach Feierabend, erreichten sie oft bessere Ergebnisse als in der LPG.
Auch im thüringischen Großengottern hatten die meisten in der LPG ihre "I-Fläche", wie die persönlichen Wirtschaften auch genannt wurden – der Buchstabe I stand dabei für "individuell". Es allerdings eine Besonderheit, die das einstmals reiche Bauerndorf von den anderen LPG-Dörfern unterschied: Hier bauten fast alle Gurken an. Denn dafür war Großengottern schon im 19. Jahrhundert bekannt.
Zuverdienst zum kargen LPG-Lohn
Auch Thea Heyer, damals LPG-Sekretärin, und Harald Dowideit, seines Zeichens Brigadier, bauten das Gemüse an, das Großengottern schon immer einen gewissen Wohlstand bescherte. Einige Tausend Mark pro Saison konnte man damit erwirtschaften – gemessen an den Löhnen in der DDR und insbesondere in den LPGs ein stattlicher Betrag.
Um Absatz musste sich niemand Gedanken machen – im Ort existierten acht Verarbeitungsbetriebe mit dem bekannten VEB Rokofa an der Spitze. Doch es war kein leicht verdientes Geld, erinnern sich die Zeitzeugen. Alle zwei bis drei Tage ging es nach der LPG-Schicht noch aufs eigene Feld.
Wir sind nach Hause gekommen, haben uns umgezogen und dann ging es raus, mit Autoanhänger, leeren Säcken und Körben. Jeder hat seine Reihe gekriegt, die Kinder und wir, und dann ist man durchgegangen. Man musste die Gurken suchen, die Blätter hochheben, da waren die kleinen bestbezahlten Gurken. Und weil die Blätter stacheln, hatten wir Gummihandschuhe an.
Doch die Plackerei lohnte sich. Mit dem Gurkengeld konnten die LPG-Mitarbeiter nicht nur ihren Lebensstandard steigern oder die Häuser und Gehöfte renovieren, sondern sich auch so manche Extravaganz leisten. Thea Heyer schwärmt heute noch von den zwei Ungarn-Urlauben, die die Familie mit dem Erlös aus der individuellen Hauswirtschaft machen konnte. "Doch der Urlaub war teuer, dann war das Gurkengeld alle", sagt Heyer lachend.
Mit dem Geld wurden Wohnungseinrichtungen gekauft, Möbel, Kühlschränke, Gefrierschränke, denn nur von dem normalen Lohn aus der LPG und durch Sparen war das schlecht möglich.
Ähnlich wie in Großengottern ging es fast überall auf dem Land in der DDR zu – nur die erzeugten Produkte unterschieden sich. Viele LPG-Bauern hielten sich auch ein paar Tiere – eigene kleine Ställe hatten sie meistens noch aus der Zeit vor der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft in der DDR.
Absurde Preispolitik der DDR
Staatliche Aufkaufstellen waren verpflichtet, den Privaterzeugern alles abzunehmen. Und das zu festen Preisen, die meist deutlich über denen lagen, die der Endverbraucher später in der Kaufhalle zahlen musste. Wirtschaftlich gesehen war das absurd, doch die DDR wollte um jeden Preis die Versorgungslücken schließen, ohne auf Lebensmittel aus dem Ausland zurückgreifen zu müssen. Denn für die musste man Devisen hinblättern, die bekanntlich knapp waren. Die Diskrepanz zwischen den staatlich festgesetzten Einkaufs- und Verkaufspreisen machte die kleinbäuerlichen Hauswirtschaften in der DDR äußerst lukrativ.
Doch das ist nicht die einzige Absurdität, die mit den individuellen Hauswirtschaften zusammenhängt. Ein weiteres Problem waren die stark subventionierten Preise für Grundnahrungsmittel im Einzelhandel der DDR. So wurden zum Beispiel Brot und Brötchen an Tiere verfüttert, weil sie weit unter ihren Herstellungskosten über den Ladentisch gingen. Das sollte der Versorgung der Bevölkerung dienen, lud aber zum Missbrauch ein – denn es war viel billiger, die "individuellen" Schweine mit Brot statt mit Getreide zu mästen.
Ein Dorf mit unglaublichem Appetit
Das Ausmaß dieser Verschwendung förderte im Sommer 1980 eine Untersuchung der Arbeiter- und Bauerninspektion (ABI) im mecklenburgischen Kasendorf zutage. Dort kam heraus, dass die örtliche Konsum-Verkaufsstelle wöchentlich sagenhafte 730 bis 1.200 Schwarzbrote, 210 Mischbrote und täglich rund 20 Kisten Buttermilch absetzen konnte. Allerdings zählte das Dorf nur 69 Einwohner – der durchschnittliche Brotverbrauch eines Haushalts lag bei stolzen 60 Laiben pro Woche. Was mit den Lebensmitteln geschah, war sonnenklar: Der Großteil landete im Futtertrog. Das war kein Einzelfall.
Individuelle Hauswirtschaften
1945 hatte man in der Sowjetischen Besatzungszone eine Bodenreform durchgeführt. Landbesitz über 100 Hektar wurde enteignet und teilweise an Neubauern verteilt. Bereits 1952 kam aber die Kehrtwende: Die Einzelbauern sollten in die LPGs eintreten. Erfolgreiche Mittel- und Großbauern mieden den Eintritt jedoch häufig. Um einen zusätzlichen Anreiz für sie zu schaffen, gewährten ihnen die Genossenschaftsstatuten die sogenannten Hauswirtschaften.
Sie waren ursprünglich für die Eigenversorgung der Bauernfamilien gedacht, wurden aber bald zu einem lukrativen Geschäft. Jeder Landwirt durfte einen halben Hektar Land nach seinem Beitritt zur LPG weiter selbst auf eigene Kosten und eigenen Nutzen bewirtschaften und dazu eine bestimmte Anzahl Tiere halten. Kleinvieh, etwa Kaninchen, unterlag keiner Begrenzung. Später wurde auch die Obergrenze für größere Nutztiere aufgehoben.
Private Landwirtschaft schließt Versorgungslücken
Der Staat wusste Bescheid – und drückte beide Augen zu, denn die individuellen Hauswirtschaften halfen, die Versorgungslücken zu schließen. In den 1980er-Jahren wurde fast der gesamte Bedarf an Honig und Kaninchenfleisch von Privaterzeugern (zu denen neben LPG-Bauern auch Kleingartenbesitzer zählten) gedeckt. Obst und Eier kamen in etwa zur Hälfte aus dem Privatsektor, Gemüse zu gut einem Viertel. Ohne Privaterzeuger wäre das Angebot in den Kaufhallen der DDR also noch um einiges dürftiger gewesen.
Freiraum für kleinbäuerliche Lebensweise
Die individuellen Hauswirtschaften hatten aber noch eine weitere, zumindest aus heutiger Sicht, positive Seite. Das hat die Agrarwissenschaftlerin Judith Königsdörfer herausgefunden, die ihre Doktorarbeit darüber geschrieben und mit vielen Zeitzeugen gesprochen hat. Die individuellen Hauswirtschaften waren eine Nische, in der selbständiges landwirtschaftliches Handeln in der DDR auch nach der staatlich verordneten Kollektivierung überdauern konnte. In diesem, wenn auch kleinen Rahmen, konnten die Menschen nach ihrem – meist nicht ganz freiwilligen Beitritt zur LPG – noch wie Bauern im herkömmlichen Sinne leben und arbeiten.
Am Anfang war das eine Art Trost für die ehemaligen Einzelbauern, die nicht in die LPG wollten und irgendetwas an die Hand bekommen mussten, damit sie der staatlichen Linie folgen. Die Hauswirtschaften waren ein Raum, wo einzelbäuerliches Leben und Arbeiten bis zum Ende der DDR weiter geführt werden konnte, unabhängig von staatlicher Ideologie.
Doch damit untergrub der Staat seine eigene Politik – nicht nur, weil die Kollektivierung damit im kleinen Rahmen ausgehebelt wurde (in internen Berichten ist von "Tendenzen der Reprivatisierung" die Rede), sondern auch, weil die Existenz der individuellen Hauswirtschaften das erklärte Ziel der Angleichung der Lebensbedingungen zwischen Stadt und Land konterkarierte.
Staat untergräbt eigene LPG-Politik
Schließlich wurden geregelte Arbeitszeiten mit einem Acht-Stunden-Tag, Anspruch auf Urlaub und Krankengeld offiziell als große Vorteile der Arbeit in der LPG angepriesen – erstmals in der Geschichte konnten LPG-Bauern ähnlich wie Arbeiter in der Stadt nach ihrer Schicht Feieraband machen – etwas, das sie als selbständige Bauern auf dem eigenen Hof niemals hätten tun können! Doch das blieb auf dem Papier, wenn die Menschen sich vor und nach der Arbeit im Großbetrieb noch um ihre private Kleinbauernwirtschaft kümmern mussten.
Dieser Vorteile, die durch die LPG gegeben waren, wurden durch die Hauswirtschaft ad absurdum geführt, weil die Menschen deutlich mehr arbeiteten. Man musste früh die Tiere noch versorgen, abends das gleiche Spiel ... Eigentlich hat man Doppelschichten geschoben, im Großbetrieb und in der individuellen Hauswirtschaft.
Zwei Drittel aller LPG-Bauen hatten in den Achtzigern noch eine individuelle Hauswirtschaft. Mit der Wiedervereinigung entfielen die staatlich garantierten Aufkaufpreise für landwirtschaftliche Erzeugnisse. In Großengottern baut heute fast niemand mehr Gurken an.
Dieser Artikel wurde erstmals im August 2020 veröffentlicht und im Juni 2023 überarbeitet.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR Zeitreise | 18. September 2022 | 22:20 Uhr