Freie Stadt Danzig: ein ungeliebter Staat
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30. August 2021, 15:53 Uhr
Am 15. November 1920 wurde nach den Bestimmungen des Versailler Vertrags die Freie Stadt Danzig gegründet. Sie war von Anfang an ein ungeliebter Staat, der von seiner Bevölkerung abgelehnt wurde, andauernd für internationale Konflikte sorgte und 1933 unter die Herrschaft der Nationalsozialisten geriet. Am 1. September 1939 brach schließlich in und auch wegen Danzig der Zweite Weltkrieg aus. Warum nahm die Freie Stadt eine solche Entwicklung - darüber sprach MDR ZEITREISE mit Peter Oliver Loew, Direktor des Deutschen Polen-Instituts.
Staatswesen wie die Freie Stadt Danzig haben oft gewisse Schattenseiten, zum Beispiel als Steueroasen. War das hier auch so?
Zum Teil schon. Da sich hier deutsche, polnische und internationale Interessen überlappten, ebenso die Zoll-, Währungs- und Justizgebiete, war die Freie Stadt Danzig schon ein Schlupfloch für krumme Geschäfte. Während der Inflationszeit in den Zwanziger Jahren, als Danzig noch keine eigene Währung besaß, wurde es zu einem Hotspot der internationalen Finanzwelt, weil es hier keine Devisenbewirtschaftung gab. Es schossen plötzlich Banken wie Pilze aus dem Boden, die nach der Währungsreform wieder eingingen. Danzig war auch ein Zentrum des Schmuggels – denn es gehörte zwar zum polnischen Zollgebiet, die Kontrolle oblag aber Danziger Zollbeamten, die dann nicht selten bestochen wurden. Es gibt viele Presseberichte über Schiffsladungen, die nachts anlandeten und weiter nach Polen oder ins Reich gingen.
Wie sah es mit Spionage aus?
Auch das trifft zu. Danzig war ein Begegnungsort internationaler Spionage, weil sich dort viele Diplomaten befanden und die kleine Danziger Polizei die geheimdienstlichen Aktivitäten nicht überwachen konnte. So konnten sich Agenten in Danzig sorglos mit Informanten und Führungsoffizieren treffen.
Als die Freie Stadt Danzig gegründet wurde, war ihr freilich eine andere Rolle zugedacht. Die Hafenstadt sollte Polens Fenster zur Welt werden. Doch das scheiterte letztlich an der massiven Ablehnung durch Bevölkerung und Politik. Wie kam das?
Historisch gehörte Danzig bis 1793, auch wenn es größtenteils von Deutschen bewohnt war, zu Polen. Bis ins 19. Jh. hinein war es in Danziger Handelsfamilien selbstverständlich, dass zumindest einer der Söhne Polnisch lernte, um in Polen Handel treiben zu können. Dann kam aber die Zeit der Nationalismen – damit kam der deutsch-polnische Konflikt auch nach Danzig, mit all den Überheblichkeiten der Deutschen gegenüber Polen. Das Ergebnis war eine Gleichgültigkeit oder auch eine gewisse Feindschaft gegenüber der polnischen Kultur, die man nicht als gleichwertig ansah.
Aber auch Polen ist nicht ganz unschuldig daran, dass die Freie Stadt Danzig in der Zwischenkriegszeit ein dauerhafter Unruheherd blieb…
Richtig. Polen versuchte, seine Rechte in Danzig möglichst breit auszulegen. Das war Symbolpolitik und diente dazu, in Danzig Fahne zu zeigen. Sehr kennzeichnend ist der Streit um zehn polnische Briefkästen in der Danziger Innenstadt – aus heutiger Sicht eine Farce, damals aber Gegenstand der Weltpolitik. Die deutsche Öffentlichkeit in Danzig reagierte auf solche Versuche allergisch. Im Deutschen Reich wiederum gab es einen überparteilichen Konsens, den Versailler Vertrag zu revidieren. Die deutsche Propaganda hat sehr viel Geld investiert, um ausländische Journalisten und Politiker davon zu überzeugen, dass hier ein Pulverfass bestünde und die einzige Lösung eine Rückgliederung Danzigs an Deutschland sei. Und die Weltpresse hat das zum Teil "gekauft".
Warum war die polnische Politik in Bezug auf Danzig so konfrontativ?
Polen war damals ein Staat, der erst langsam zusammenwuchs, mit unterschiedlichen Landesteilen, die früher zu drei unterschiedlichen Imperien gehört hatten, und mit großen nationalen Minderheiten. Man versuchte also den Staat zu konsolidieren, auch durch Abgrenzung zu anderen und durch eine gewisse Großmachtpose. Deshalb ging es polnischen Politikern oft nicht um Konfliktlösung, sondern darum, Konflikte herbeizuführen, um im Inneren den Verteidiger des Vaterlandes spielen zu können. Das ist eine Strategie, die wir auch in der Gegenwart von vielen autoritären Regierungen kennen.
Warum ist es nicht gelungen, so etwas wie eine Danziger Identität zu schaffen? Die Danziger haben sich im September 1939 ja recht bereitwillig "heim ins Reich" holen lassen…
Der Danziger Senat, also die Regierung der Freien Stadt Danzig, bestand in den 20er-Jahren weitgehend aus Personen, die aus ganz Deutschland zugezogen waren. Das waren also kaum Leute, die eine Danziger Nationsidee hätten entwickeln können. Heinrich Sahm zum Beispiel, der erste Senatspräsident, hatte seine Karriere als Stadtrat in Magdeburg begonnen und wurde später Oberbürgermeister von Berlin. Es ist ihm gelungen, den Staat zu stabilisieren und eine funktionierende Verwaltung aufzubauen. Was den Gründungsvätern aber nicht gelang und was sie wahrscheinlich auch gar nicht wollten, war Danzig zu mehr Eigenständigkeit zu verhelfen, damit Danzig nicht nur auf dem Papier ein eigenständiger Staat wird, sondern eine Freistaatsmentalität entwickelt. Dazu waren sie zu sehr in der deutschen Geschichte und in den deutschen Behörden verwurzelt. Dazu hätte es Leute gebraucht, die über Generationen aus Danzig stammten und aus Traditionsverbundenheit eine Danziger Stadtrepublik hätten gründen wollen.
Das wundert mich, denn nach dem Zweiten Weltkrieg beriefen sich die Danziger oft auf ihre Sonderstellung und die eigene Staatsangehörigkeit…
Das ist eine Verklärung im Rückblick, denn damals war das ein ungeliebter Staat, der kaum Rückhalt in der Bevölkerung hatte. Es gab zwar eine Nationalhymne und die Danziger Fahne – darauf waren die Danziger auch irgendwie stolz, aber es war ein ähnlicher Stolz wie ihn ein Hesse oder Bayer verspürte als Teil der großen deutschen Kulturnation. Die Vorstellung, auf Dauer ein eigener Staat zu sein, haben sich nur wenige Menschen zu eigen gemacht. Und anders als in solchen Kleinstaaten wie Monaco oder Liechtenstein fehlte ein Herrscherhaus, das dafür sorgte, dass der Staat langfristig bestehen blieb.
Wie wurde die Freie Stadt Danzig von der NSDAP gleichgeschaltet? Lief das anders als "im Reich" ab?
Im Frühjahr 1933 gab es in Danzig Wahlen, bei denen die NSDAP an die Macht kam. Die Gleichschaltung dauerte aber länger als im Reich, weil die Freie Stadt unter Aufsicht des Völkerbundes stand – deswegen konnte man die Verfassung nicht so einfach aushebeln. Noch 1935 gab es eine halbwegs freie Wahl, zu der die Opposition antreten durfte – allerdings ohne die Möglichkeit, sich in den staatlichen Medien zu äußern und große Versammlungen abzuhalten. Danach griff die NSDAP auch in Danzig durch. Bis 1937 waren alle Oppositionsparteien verboten, die Presse gleichgeschaltet und bis auf zwei polnische Abgeordnete war das Parlament auf NSDAP-Kurs. Danzig wurde immer mehr zu einem Teil Deutschlands, auch wenn es formell noch ein Freistaat war.
Wurde die jüdische Bevölkerung auch in Danzig verfolgt?
Die Rassengesetze wurden nicht wie im Reich umgesetzt, aber de facto nahm die Diskriminierung von Juden zu. Auch in Danzig fand die sogenannte Reichspogromnacht statt. Man hat danach aber eine gewisse Übereinkunft mit der jüdischen Gemeinde gefunden: Sie verkaufte die Synagogen und ihre Liegenschaften und finanzierte so die Auswanderung der jüdischen Staatsbürger, so dass die meisten Danziger Juden den Krieg überleben konnten.
Welche Bilanz würden Sie für die 19 Jahre Bestehen der Freien Stadt Danzig ziehen?
Der Kompromiss, der bei der Friedenskonferenz von Versailles gefunden wurde, hat nicht funktioniert. Er hat nicht dazu beigetragen, dass Deutsche und Polen kooperiert haben, dass Danzig als Stadt florieren konnte. Die Freie Stadt Danzig krankte die ganze Zeit über am politischen Konflikt zwischen Deutschland und Polen, an der schlechten wirtschaftlichen Basis, denn sie hatte zu wenig Industrie, und auch daran, dass die meisten Danziger von Polen nichts wissen wollten.
Das ist eine eher ernüchternde Bilanz, zumal ich den Eindruck habe, dass die Zeit als Freistaat von den heutigen polnischen Danzigern als Teil ihrer Regionalidentität ein wenig verklärt wird…
So ist es. Die Danziger Geschichte wurde schon immer gern verklärt. Und der Freistaat Danzig? Das klingt toll, das klingt so frei und scheint so gut zu passen zur Danziger Geschichte mit der Freiheitsbewegung der Solidarność, die in Danzig entstand. Aber wenn man genauer hinschaut, stimmt es halt nicht. Die Freie Stadt war alles andere als frei und alles andere als ein Vorbild für die Gegenwart.
Unser Gesprächspartner
Peter Oliver Loew, 1967 in Frankfurt am Main geboren. Studium der Osteuropäischen Geschichte, Slavistik und Volkswirtschaft in Nürnberg, Freiburg und Berlin. Promotion über die lokale Geschichtskultur in Danzig zwischen 1793 und 1997. Seit 2009/2010 Lehrauftrag an der TU Darmstadt, seit 2014 Lehrauftrag an der TU Dresden. 2014 Habilitation an der TU Dresden, Privatdozent dortselbst. Seit 2019 Direktor des Deutschen-Polen-Instituts. 2020 Honorarprofessur an der TU Darmstadt.
Das Interview führte MDR ZEITREISE-Redakteur Cezary Bazydło.
Dieses Thema im Programm: Artour | 15. August 2019 | 22:00 Uhr