Deutsch-polnischer Streit um Danzig Danziger Dorf: Wie die Weltpolitik Magdeburg ein neues Viertel bescherte
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26. November 2020, 12:54 Uhr
Nach dem Ersten Weltkrieg entstand in Europa ein neuer Kleinstaat: die Freie Stadt Danzig. Er sollte später traurige Berühmtheit erlangen als der Ort, an dem der nächste, Zweite Weltkrieg ausbrach. Die ganzen Zwanziger und Dreißiger Jahre hindurch blieb Danzig ein Unruheherd, in dem Deutschland und Polen ständig "Fahne zeigen" wollten. Diese Rivalität verhalf der Stadt Magdeburg zu einem neuen Viertel: dem Danziger Dorf.
Am 5. November 1936 wurde mit erheblichem propagandistischem Aufwand Richtfest in einem neuen kleinen Stadtteil Magdeburgs gefeiert - dem sogenannten Danziger Dorf. Würdenträger von Stadt und NSDAP waren erschienen, um dem geschichtsträchtigen Augenblick beizuwohnen. "Es handelt sich um eine Siedlung, die Danziger Volksgenossen eine neue Heimat werden soll. Die Siedler waren in Danzig jahrelang arbeitslos", berichtete die Presse.
Wie fing die Geschichte an?
Danzig war nach den Bestimmungen des Versailler Vertrages vom Deutschen Reich abgetrennt und am 15. November 1920 zu einem unabhängigen Staat erklärt worden: der Freien Stadt Danzig. Der Grund dafür: Der nach 120 Jahren wiedererrichtete polnische Staat brauchte einen Hafen, weil Danzig aber mehrheitlich von Deutschen bewohnt war, wollte man es nicht direkt an Polen anschließen. Und so gründete man eine Stadtrepublik mit knapp 400.000 Einwohnern unter Aufsicht des Völkerbundes, mit besonderen polnischen Vorrechten - eine Lösung, die ständig für Konflikte sorgte, denn Polen wollte seine Vorrechte in Danzig ausbauen und Deutschland die Stadt zurückbekommen. Doch der neu gegründete Staat hatte noch ein weiteres Problem: eine schwache Wirtschaft. Nach einem anfänglichen Aufschwung Anfang der 1920er Jahre ging es mit der Danziger Wirtschaft bergab.
Freie Stadt Danzig: arm, aber sexy
Anfang der 1930er Jahre verschlechterte sich die wirtschaftliche Situation in Danzig noch einmal dramatisch. "Die Gründe waren zum einen die Weltwirtschaftskrise, aber auch strukturelle Probleme. Die Stadt besaß zu wenig Industrie", erklärt Peter Oliver Loew, Direktor des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt. Der einzige große Wirtschaftszweig waren Werften, doch die hatten mit dem Ende des Ersten Weltkrieges ihren wichtigsten Auftraggeber, die Kaiserliche Marine, verloren und schlugen sich nun mehr schlecht als recht auf dem zivilen Weltmarkt durch. "Abgesehen von den Werften gab es eher kleinere Betriebe und lebensmittelverarbeitende Industrie, denn Danzig war traditionell eine Handels- und Handwerksstadt, keine Industriestadt", berichtet Loew. Der Tourismus in der pittoresken, alten Hansestadt konnte aufgrund der internationalen Spannungen rund um Danzig nicht wirklich florieren.
Die Folge: 1933 stieg die Arbeitslosenzahl in Danzig auf mehr als 20 Prozent an und bliebt konstant hoch. In Deutschland dagegen begann sich die Wirtschaft nach der Machtübernahme der Nazis zu erholen, vor allem durch die beginnende Aufrüstung. Der Freien Stadt Danzig drohte unterdessen ein Staatsbankrott. Um die Krise ein wenig zu mildern, wurden in den Jahren 1934-1936 rund 1.800 Beamte und 2.140 Pensionäre ins Deutsche Reich umgesiedelt und etwa 2.000 Freiwillige für die Wehrmacht geworben. Doch das reichte bei weitem nicht!
Arbeit für Danziger Arbeitslose im "Reich"
1936 entschloss sich der Danziger Senat, wie die Regierung der Freien Stadt hieß, daher zu einer weiteren ungewöhnlichen Maßnahme: "Die Arbeitsverwaltung in Danzig trat an verschiedene Arbeitsämter im Reich mit der Frage heran, ob sie nicht arbeitslose Danziger aufnehmen können", sagt der Historiker Peter Oliver Loew. Der Hilferuf aus Danzig wurde im Deutschen Reich erhört - dabei half auch die Tatsache, dass seit den Parlamentswahlen im Frühjahr 1933 auch in Danzig die NSDAP regierte. Die nationalsozialistische Führung der Freien Stadt begab sich seitdem zunehmend in politische und wirtschaftliche Abhängigkeit von Hitler-Deutschland, das wiederum in Danzig gegen Polen Flagge zeigen wollte.
Und so kam man schnell überein: Es wurde beschlossen, vor allem verheiratete Arbeiter umzusiedeln und ihre Familien nach Klärung der Wohnungsfrage nachziehen zu lassen. Und so arbeiteten 1937 bereits 7.382 Danziger zeitweilig im Deutschen Reich und 1.053 waren auf Dauer dorthin umgezogen. Zweieinhalb Jahre später, im Juni 1939, gab es bereits 16.208 im Reich arbeitende Danziger und 3.265 dauerhafte Umsiedler.
Magdeburg sträubt sich zunächt - wegen Wohnungsnot
Den Umsiedlern aus Danzig Arbeit zu vermitteln, war den Behörden im Deutschen Reich noch relativ leicht gefallen. Schwieriger hingegen stellte sich die Beschaffung von Wohnraum dar. Durch eine Verfügung des Reichsarbeitsministers Robert Ley waren Landräte und Oberbürgermeister von Städten und Gemeinden daher dringend angehalten, die Wohnungssuche für die Übersiedler bedingungslos zu unterstützen. "Die Reichsregierung legt entscheidendes Gewicht darauf, dass die Maßnahme so schnell wie nur irgend möglich durchgeführt wird", schrieb Ley.
Doch Magdeburgs Oberbürgermeister Fritz Markmann legte, obwohl er strammer Parteigenosse war, heftigen Protest ein - vor allem wegen der enormen Wohnungsnot in der Stadt. "Unzählige alteingesessene Magdeburger Familien haben noch keine Wohnung, wohnen in unwürdigen Unterkünften oder sehr beengt für hohe Bezahlung in Untermiete", schrieb er nach oben. Doch er kam damit nicht durch. Magdeburg musste sich 1936 bereit erklären, etwa 1.000 Danziger aufzunehmen.
Das Danziger Dorf als Lösung der Wohnraumfrage
Die Stadt fügte sich und ließ ab Juli 1936 auf einem Acker im Magdeburger Norden ein eigenes Mini-Viertel für die Umsiedler errichten: das Danziger Dorf. Um einen mit Linden bestandenen Dorfplatz wurden drei Doppelhäuser sowie elf Reihenhäuser mit insgesamt 188 Wohnungen errichtet. Zusätzlich wurde ein Gemeinschaftshaus mit einer Kneipe und einem Laden gebaut. Hier gab man sich architektonisch sogar etwas mehr Mühe als bei den einfach gestalteten Wohnhäusern: Um den Neuankömmlingen ein wenig Heimatgefühl zu vermitteln, erinnerte das Gemeinschaftshaus äußerlich an die traditionellen Vorlaubenhäuser, wie man sie in der Danziger Gegend antraf.
Das Danziger Dorf bestand lediglich aus drei kleinen Straßen: Danziger Dorf, Danziger und Langfuhrer Straße. Jeder Wohnung in der Siedlung war ein 200 Quadratmeter großer Garten angegliedert, in dem die Bewohner Gemüse anpflanzen konnten. Die Miete war mit 25 Reichsmark im Monat relativ günstig, der Komfort allerdings auch relativ bescheiden: kein Anschluss ans städtische Wassernetz und statt eines WC ein einfaches Plumsklo im Garten. Geplant war, dass nach einem Zeitraum von etwa fünf Jahren die "Volkswohnungshäuser an siedlungswillige und siedlungswürdige Bewohner" verkauft werden - doch dazu kam es nicht.
Danziger Dorf darf in der DDR nicht mehr so heißen
In der DDR sollte nichts mehr an die ehemaligen deutschen Ostgebiete erinnern. 1951 wurden deshalb die ursprünglichen Straßennamen mit Bezug zu Danzig ersetzt - die drei Straßen im Danziger Dorf hießen fortan Wenddorfer Weg, Bertinger Weg und Loitscher Weg. Offiziell hieß die Siedlung nun auch nicht mehr Danziger Dorf. Der Name durfte nicht mehr verwendet werden. 1988, fast 50 Jahre später als geplant, gingen schließlich die ersten Häuser in Privatbesitz über. Nach dem Ende der DDR erhielt eine Straßenbahnhaltestelle im heutigen Magdeburger Stadtteil Kannenstieg den Namen Danziger Dorf.
Dieses Thema im Programm: artour | 15. August 2019 | 22:00 Uhr