Jüdisches Leben in Mitteldeutschland Holocaustüberlebender Wolfgang Nossen über die Suche nach dem Glück
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19. Mai 2021, 19:27 Uhr
Die Rastlosigkeit des Holocaustüberlebenden Wolfgang Nossen ist ein Sinnbild für die Suche nach Zugehörigkeit, das viele Juden nach dem Zweiten Weltkrieg umtrieb. Sein Leben war geprägt von Angst und Flucht. Als Soldat kämpfte er in vier Kriegen, überlebte den Völkermord und wanderte anschließend nach Israel aus. Seine Suche nach Freiheit und einem Zuhause begleitete ihn dabei ständig. Eine unerfüllte Liebe führte ihn nach vielen Jahren zurück nach Deutschland.
Wolfgang Nossen wurde am 9. Februar 1931 als ältester Sohn einer jüdischen Fleischerfamilie in Breslau geboren. Die Stadt war damals die Provinzhauptstadt Niederschlesiens und beheimatete eine der größten jüdischen Gemeinden Deutschlands. Mit der Machtergreifung durch die Nazis begann der wirtschaftliche Niedergang der Familie - und auch für Wolfgang änderte sich einiges: Sein Vater kam bereits 1938 in das Konzentrationslager Buchenwald. Die Familie brachte daraufhin das letzte Geld auf, womit er sich eine Ausreise in die Freiheit erkaufte. Aber noch bevor die siebenköpfige Familie flüchten konnte, begann der Zweite Weltkrieg.
Überleben in Breslau
Richtige Angst durchlebte Wolfgang Nossen 1943 als Zwölfjähriger. Über Nacht musste er lernen, was es bedeutet, als Jude ausgegrenzt und dem Tode geweiht zu sein. Die Familie wurde mit den wenigen verbliebenen Breslauer Juden in das Ghetto der Stadt, in Eines der sogenannten Judenhäuser gepfercht. Als der Vater schließlich 1944 erneut ins Konzentrationslager verschleppt wurde, musste Wolfgang die Verantwortung für die Mutter und die jüngeren Schwestern übernehmen. Trotz Bombenangriffen harrte die Familie bis Februar 1945 im Breslauer Ghetto aus. Kurz darauf sollten sie abtransportiert werden.
Den Tod vor Augen, entschloss sich die Familie, während eines Luftangriffs zu fliehen. Ausgerechnet in einer menschenleeren SS-Siedlung tauchte die Familie unter. Dort, so vermuteten sie, würde man wohl am wenigsten nach ihnen suchen. Sie überlebten die letzten Monate, bis die Stadt nach der Kapitulation der Roten Armee in die Hände fiel. Unter den Soldaten war auch der schon tot geglaubte Vater. Ein wahres Wunder für die Familie. Er war während eines "Todesmarsches" geflohen und hatte sich der Roten Armee angeschlossen.
Bis zur Familienzusammenkunft war Wolfgang das Familienoberhaupt. Der Anweisung des Vaters, das Haus nicht zu verlassen, widersetzte er sich. Prompt wurde er von polnischen Milizionären aufgegriffen. Der 14-Jährige wurde in eine Arbeitskolonne gesteckt, die einen Soldatenfriedhof in Breslau errichten sollte. Der erste Fluchtversuch misslang, ein anderer Junge wurde dabei erschossen. Der zweite Versuch glückte ihm und brachte den jungen Mann zurück zu seiner Familie.
Wir wollten in die amerikanische Zone. Für uns war klar: Deutschland ist am Ende, wir wollen auswandern. Endlich. Mein Vater hatte eine Schwester in Uruguay, da wollten wir hin.
Gestrandet in Erfurt
Ein Bustransport nach Erfurt wurde für die verbliebenen 400 Breslauer Juden organisiert. Als die Familie dort nach langer Fahrt ankam, gehörte die Stadt bereits zur Sowjetischen Zone. Der nächste Schicksalsschlag folgte: Wolfgangs Mutter erkrankte schwer. Die Flucht nach Uruguay blieb aus und die Familie entschied sich zu bleiben.
Die Familie richtete sich vorerst in Erfurt ein. Eine lebendige jüdische Gemeinde entstand durch den Zustrom aus Breslau. In Erfurt selbst hatten nur 15 Juden überlebt. Auch Wolfgang, der mittlerweile eine Ausbildung zum Automechaniker machte und sich in der Volksschule in Elisabeth verliebte, fand hier seinen Platz im jüdischen Sportverein. So kam es auch dazu, dass er 1948 zum ersten jüdischen Sportfest nach Berlin fuhr. Kurz zuvor war der Staat Israel gegründet worden und so warb man unter den jungen Menschen nach Einwanderern und auch potentiellen Verteidigern des neuen Landes. Der 17-jährige war begeistert von der Idee auszuwandern. Zusammen mit einer Gruppe junger Juden aus Erfurt meldete er sich an. Als seine Pläne zur Tat wurden, schilderte er seiner Jugendliebe Elisabeth und seinen Schulkameraden sein Geheimnis:
Dann habe ich denen erst erzählt, dass ich nach Israel gehe. 'Warum', fragten sie. Da habe ich gesagt: 'Na ja, ich bin Jude!' 'Das gibt's doch gar nicht, du bist doch so wie wir', sagten sie darauf. Da sagte ich: 'Ja, ja, das dachte ich auch immer, bis man uns was anderes beigebracht hat. Da ist gerade ein eigener Staat gegründet worden, da muss ich dabei sein.'
Neues Leben in Israel
Im Herbst 1948 landete das Flugzeug mit dem 17-jährigen Wolfgang an Bord auf einer Betonpiste in Haifa. Mit einem gefälschten UNO-Pass reiste er in das Land ein, das so anders war als Deutschland. Doch Wolfgang gewöhnte sich an die Fremde und lebte sich ein.
Das war mein Land. Ich war begeistert. Der Gedanke, dass ich nicht mehr Minderheit bin, das hat mich schon mit Genugtuung, um nicht zu sagen Stolz erfüllt.
Wolfgang schlug Wurzeln in Israel. Die Briefe, die er an seine Liebste Elisabeth schickte, erreichten sie nicht. Sie verloren sich aus den Augen und er lernte seine erste Frau kennen. Wolfgang wurde Vater und sollte in die familieneigene Strickwarenfabrik einsteigen. Zur Weiterbildung musste er deshalb wieder nach Deutschland.
Zurück nach Deutschland
Widerwillig fügte er sich und ging nach Westdeutschland. Seine Jugendliebe Elisabeth hatte er dabei nicht vergessen. Er suchte nach ihr und fand sie in Westberlin, doch für eine Beziehung war es längst zu spät, denn auch sie hatte geheiratet. Sie versprachen sich im Briefkontakt zu bleiben, doch mit dem Mauerbau riss der Kontakt erneut ab. Als er seine Umschulung beendet hatte, kehrte er nach Israel zurück. Das Geschäft mit den Strickwaren lief jedoch nicht gut und auch seine Ehe scheiterte.
Wolfgang Nossens nächste Jahre waren von Rastlosigkeit geprägt. Nach seiner gescheiterten Ehe zog er 1977 zurück nach Deutschland und verbrachte zunächst die Zeit in Bayern, wo seine Eltern und Geschwister mittlerweile lebten. Doch auch hier wurde er nicht glücklich. Knapp zehn Jahre später entschied er sich, erneut zurück nach Israel zu gehen. Doch zuvor wollte er noch einmal Erfurt und seine große Liebe Elisabeth besuchen. Mehrmals beantragte er die Einreise, doch immer ohne Erfolg. Erst nach dem Mauerfall durfte er einreisen und nahm Kontakt mit ihr auf. Ihre Nummer fand er im Telefonbuch:
Ich wähle diese Nummer. Und, wie in der Schule, meldet sich so eine dünne Stimme. Und sie erkennt mich sofort. Naja, dann kam ich nachmittags zum Kaffee und da war es passiert: Die Tür ging auf, 30 Jahre nicht gesehen. Aber die waren weggewischt.
Seine Pläne, nach Israel zurückzukehren, waren verflogen. Dieses Mal wollte Wolfgang Nossen alles richtig machen. Er suchte eine Wohnung in Erfurt, verbrachte Zeit mit der unglücklich verheirateten Elisabeth und bekam einen Job und eine Wohnung im jüdischen Gemeindehaus. Das Glück war seither auf seiner Seite, Elisabeth und er fanden wieder zusammen. 1990 konnte Wolfgang Nossen endlich seine Jugendliebe heiraten:
Jetzt bin ich zu Hause in Erfurt und so bleibt das. Meine bessere Hälfte ist mit Leib und Seele Thüringerin. Ohne ihren Thüringer Wald kriegt sie keine Luft. Und wir sind beide sehr zufrieden über den Lauf des Schicksals.
Mitte der 1990er-Jahre wählte ihn die jüdische Gemeinde zum Vorsitzenden. Kurze Zeit später wurde er auch Vorsitzender der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen. Wolfgang Nossen hat sein Wirken fortan in den Dienst des jüdischen Lebens im Freistaat gestellt und prägte es für 18 Jahre. Für sein Engagement erhielt er den Verdienstorden des Freistaates Thüringen. Am 16. Februar 2019 starb Wolfgang Nossen im Alter von 88 Jahren.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Geschichte Mitteldeutschlands - Das Magazin: Wolfgang Nossen und der Staat Israel | 17. Februar 2019 | 19:00 Uhr