"Atomausstieg" nach Wiedervereinigung Das unvollendete Kernkraftwerk Stendal
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24. November 2021, 17:02 Uhr
Im Sommer 1990 arbeiten bei Stendal 7.000 Menschen auf einer einzigen Baustelle. Sie sollen das größte Kernkraftwerk Deutschlands errichten. Harald Gatzke, der 2012 verstorben ist, wird ihr Chef. Der Ingenieur baut seit 30 Jahren Kraftwerke. Doch sein letztes Objekt wird nie vollendet: zu unbeliebt, zu teuer. Für Ostdeutschland kommt der Atomausstieg nicht erst nach dem Reaktorunglück von Fukushima, sondern schon kurz nach der Wiedervereinigung. In den Jahren vor seinem Tod spricht Gatzke mit dem MDR über seine Arbeit in Stendal.
Harald Gatzke kommt 1990 in die Altmark. Sein Auftraggeber ist die Treuhandanstalt. Sein Auftrag: Er soll das größte Bauprojekt der DDR zu Ende führen – das Kernkraftwerk (KKW) Stendal. An diesem wird damals mit Hochdruck gebaut. Über 7.000 Menschen, darunter 5.000 ausländische Fachkräfte, sind auf der Baustelle bei Arneburg an der Elbe, 15 Kilometer östlich von Stendal, im Dauereinsatz. Bis Ende der 1990er-Jahre sollen dort vier Blöcke mit je 1.000 Megawatt Leistung entstehen. Das zumindest sehen die Pläne aus den 1980er-Jahren vor. 5,5 Milliarden DDR-Mark sind bereits in das Projekt geflossen. Bei seiner Fertigstellung würde Stendal nicht nur das größte gesamtdeutsche Atomkraftwerk sein, sondern auch eines der größten in Europa.
30 Jahre Erfahrung
Die Wahl fällt nicht von ungefähr auf Gatzke. Der damals 55-jährige Ingenieur gilt als der Fachmann schlechthin. Seit 30 Jahren leitet er den Bau und die Inbetriebnahme von Kraftwerken. Unter seiner Regie entsteht auch das Kraftwerk Jänschwalde, das gemessen an seiner Leistung mit 3.000 Megawatt zweitgrößte Kraftwerk Deutschlands. In der letzten DDR-Regierung wird Gatzke stellvertretender Energieminister, leitet die Hauptabteilung Kernenergie. Da er in Jänschwalde gezeigt habe, was er kann, sei er 1990 nach Stendal gekommen, sagt der gebürtige Berliner.
Gatzke ist fest entschlossen, auch dieses Projekt zu Ende zu bringen. Anfangs sieht er noch Grund zum Optimismus: "Die Bauarbeiten am ersten Block waren zu 90 bis 95 Prozent fertiggestellt." Damit liegt Stendal voll im Zeitplan. Der erste Block soll 1991 ans Netz gehen. "Wir waren fest davon überzeugt: Das Kernkraftwerk wird zu Ende gebaut", betont Gatzke. Doch noch im Laufe des Frühjahres 1990 sei zu spüren gewesen, dass es mit der Vollendung des KKW rein nach sowjetischer Technologie schwierig werden könnte. Damals begleitet Gatzke Bundesumweltminister Klaus Töpfer auf einer Rundreise durch die DDR-Kernkraftwerke: "Da wurde mir schon deutlich, dass politisch keine Absicht bestand, diese Technik zu übernehmen und weiterzuführen."
Bedenken in Ost und West
Tatsächlich gibt es seit Tschernobyl erhebliche Bedenken gegen das Stendaler KKW-Projekt – in Ost und West. Viele Altmärker begrüßen die Wende nicht zuletzt deshalb, weil sie nun das Ende der Kernkraftwerkspläne erwarten. Am 14. Juli 1990 fordert zum Beispiel der Kreistag Stendal einen sofortigen Baustopp. Gatzke hält die Ängste für unbegründet: Die erstmals in Stendal eingesetzte sogenannte Stahlzellenverbundtechnik – eine Entwicklung des Magdeburger Schwermaschinenbaukombinats – hätte ein hohes Maß an Sicherheit garantiert, argumentiert der Ingenieur.
Geld wird knapp
Die weit verbreiteten Sicherheitsbedenken sind jedoch längst nicht das einzige Problem. Viel schwerwiegender ist, dass den Verantwortlichen 1990 allmählich das Geld ausgeht. Bereits zwei Jahre zuvor hatten sich die kalkulierten Baukosten für das Stendaler Atomkraftwerk auf sage und schreibe 28,4 Milliarden Ost-Mark erhöht. Zum Vergleich: Alle bisherigen KKW-Projekte der DDR hatten zusammen gerade mal 22 Milliarden Mark gekostet. "Mit der Wirtschafts- und Währungsunion gab es dann keinen Staatshaushalt mehr – und somit auch keine Finanzierung für diese Investition", erklärt Gatzke. Der Projektleiter muss von da an zusehen, wie immer mehr Baufirmen die einstige Großbaustelle des Sozialismus verlassen.
Siemens will Kraftwerk zu Ende bauen
Zum Milliardengrab will Gatzke das Projekt dennoch nicht verkommen lassen. Er verhandelt mit westdeutschen Firmen. Sie sollen wenigstens den ersten der vier geplanten Reaktorblöcke mit westlicher Sicherheits- und Steuerungstechnik ausstatten: "Siemens wollte unbedingt dieses Kraftwerk zu Ende bauen. Sie wollten ein Referenzobjekt für die 20 bis 30 analogen Kernkraftwerke im RGW-Bereich hier in Stendal haben." Auch Sachsen-Anhalts erste Landesregierung unterstützt das Vorhaben anfangs. Doch aus den Plänen wird nichts. Bevor das Konzept greifen kann, erhält Gatzke einen Brief von Treuhand-Chefin Birgit Breuel mit dem Auftrag, das Projekt unverzüglich "rückabzuwickeln". Im März 1991 werden auf der größten Baustelle Ostdeutschlands die Arbeiten eingestellt.
Was war der RGW?
Die Abkürzung steht für die Bezeichnung "Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe", dem Wirtschaftsbündnis der früheren Ostblock-Staaten. Es bestand von 1949 bis 1991. Mitglieder waren: Sowjetunion, DDR, CSSR, Polen, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Kuba, Mongolische Volksrepublik, Vietnam und Albanien.
Größte Investition in der Altmark
Gatzke aber bleibt in der Altmark. Gemeinsam mit Partnern kauft er die Industriebrache bei Arneburg. Es ist maßgeblich ihm zu verdanken, dass elf Jahre später auf dem Gelände der ehemaligen KKW-Baustelle eines der größten Zellstoffwerke Europas entsteht und zahlreiche Firmen angesiedelt werden. Unermüdlich ist er dafür im Einsatz. Nur einmal bleibt er seiner Baustelle fern: als 1999 die drei 150 Meter hohen Kühltürme des Kernkraftwerkes gesprengt werden. Gatzke gesteht unumwunden ein: Er hätte das Projekt, für das er 1990 in die Altmark gekommen war, viel lieber zu Ende gebaut.
Harald Gatzke ist am 2. Dezember 2012 gestorben. In den Jahren vor seinem Tod spricht Gatzke in mehreren TV-Beiträgen mit dem MDR über seine Arbeit in Stendal.