Donnerstag, 19.10.2023: Schuppen, die von den Augen fallen..
Was für eine schöne Redewendung. Sie erscheint auf den ersten Blick etwas unverständlich, dennoch weiß jeder sofort, was gemeint ist.
Wie fast alle grandiosen Delikatessen der deutschen Sprache ist das Wort von den fallenden Schuppen natürlich ein Werk von Martin Luther. Der Reformator ist für mich der größte Germanist, den es je gegeben hat. Eigentlich hat er die deutsche Sprache überhaupt erst erfunden. Nächstenliebe, Herzenslust, Ebenbild, Machtwort, Lästermaul - alles Schöpfungen des legendären Sprachjongleurs. Jeder von uns führt ständig Luther im Mund, ohne es wahrzunehmen. So auch die fallenden Schuppen, die tatsächlich was mit trüben Augenlinsen zu tun haben. Saulus, der Christenfeind aus der Apostelgeschichte, wurde auf seinem Weg zu weiteren Untaten von einer himmlischen Macht vom Pferd geworfen und erblindete. Nach ein paar Tagen fielen ihm die Schuppen von den Augen und er konnte klar sehen. Nicht nur körperlich. Er sah und erkannte seinen Irrweg und wurde zum gottesfürchtigen Paulus.
Ich selbst habe vor kurzer Zeit im wahrsten Sinne des Wortes erlebt, wie es ist, wenn Schuppen von den Augen fallen. Meine Sehleistung wurde immer mieser. Als mich schließlich mein Optiker schulterzuckend abwies, nahte das Unvermeidliche. Augenoperation, Grauer Star. Für mich keine angenehme Vorstellung. Wenn es um die Augen geht, bin ich überempfindlich, bis an die Grenze des Angsthasentums. Aber es half nichts. Und so schlimm war es letztlich nicht. Narkose, Reich der Träume, dann war alles vorbei. Oder auch nicht. Als ich am nächsten Tag den Verband entfernte, traute ich meinen Augen nicht. Die Schuppen waren von den Augen gefallen. Ich sah wieder scharf. Und wie. Details in der Ferne. Unfassbar. Ich war ein anderer Mensch und erkannte, Dinge, die ich schon lange nicht mehr so wahrgenommen hatte.
Meine Geschichte ist letztlich unwichtig. Die von Saulus, der zum Paulus wurde, wichtiger. Es geht bei den fallenden Schuppen nicht nur immer um reine Sehleistung.
