Freitag, 24.11.2023: Seid barmherzig
Der Straßenverkehr zwischen 6 und 8 Uhr morgens ist nicht nur in Leipzig eine echte Herausforderung. Das ist jetzt schon positiv formuliert. Man könnte auch "Nahkampf" dazu sagen: Stoßstange an Stoßstange - Fahrradfahrer gegen Autofahrer. Auch die Öffentlichen stehen im Stau und kommen auch zu spät.
Die Menschen sind so rücksichtslos alle auf sich bedacht, denke ich mir. Ich schimpfe vor mich hin. Die Nerven liegen schon am frühen Morgen blank. Jetzt habe ich Glück: Jemand signalisiert mir durch Lichtzeichen, dass er mich vor sich reinlässt. Hinter mir hupen schon die ersten.
Für einen Moment schaue ich den Menschen am Steuer an und bedanke mich mit Kopfnicken und Handzeichen. Die Leute, die in ihren Autos morgens in die Stadt fahren, sind Arbeiter, Angestellte, Pflegedienste, Handwerker. Viele von ihnen wären gern mit den Öffentlichen gekommen, aber sie brauchen das Auto für die Arbeit. Viele kommen von weit außerhalb oder sind älter und auf das Auto angewiesen.
Ob SUV oder Lieferwagen - überall sitzen Menschen mit dem gleichen Ziel. Es geht nicht vorwärts. Der Tipp einer Bekannten, an jeder roten Ampel ein kurzes Gebet zu sprechen, könnte jetzt helfen. Die Aggressionen, die nicht nur in mir hochkommen, sind verständlich und problematisch zugleich. Ich fühle mich hilflos, die Wut steigt. So will ich einfach nicht in den Tag starten. Wenn ich jetzt nicht aufpasse, bestimmt es die Art und Weise, mit der ich anderen begegne. Dann werden andere Menschen, auch wenn sie mir nur einen Schritt zu nahe kommen, zum Ärgernis und egal, was sie machen, rege ich mich auf und denke: so rücksichtslos, so auf sich bedacht!
Wie lässt sich dieser Mechanismus überwinden? Wie setze ich meinen eigenen Umständen und den Krisen dieser Zeit etwas Positives entgegen? Wie eine grün gewordene Ampel fällt mir plötzlich ein, was ich vor ein paar Tagen in der Bibel gelesen habe. "Seid barmherzig", sagt Jesus im Lukasevangelium. Barmherzigkeit ist ein biblisches Wort. Es wird heute wenig benutzt. Für viele klingt es altertümlich und zu fromm? Ein Wort, dass sich gut in die Tat umsetzen lässt und eine positive Kraft und Wirkung entwickelt.
Im Lukasevangelium steht dieser Vers interessanterweise zwischen dem Gebot der Feindesliebe und der Warnung, einander vorschnell zu verurteilen. Einfühlsamkeit ist gefragt. Ich darf es mir selber sagen, aber auch anderen freundlich zusprechen. Und mein Verhalten danach ausrichten. Was im Großen notwendig ist, hilft mir auch im Kleinen. Inzwischen hat sich der Stau um mich herum aufgelöst und es geht weiter. Fast pünktlich komme ich ans Ziel.
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