Sonnabend, 25.11.2023: Erinnerungen
Ein sechsjähriger Junge ist mit Bus und Bahn allein von Mönchengladbach nach Düsseldorf gefahren, also mitten durch das Ruhrgebiet, um dort das Grab seiner Oma zu besuchen. An einem Montag im November war er von der Schule nicht nach Hause gekommen. Damit hatte er eine große Suchaktion der Polizei mit Hubschrauber und Spürhunden ausgelöst. Ein Zeugenhinweis brachte die Ermittler dann auf die Spur. Der Junge könnte in das gut 30 km entfernte Düsseldorf gefahren sein. Dort hatte die Familie früher gewohnt. In der Nähe des Friedhofs wurde er dann abends an einer Bushaltestelle gesehen. Mich berührt diese Geschichte tief. Welche Gefühle, Gedanken und Sehnsüchte haben ihn wohl dorthin gezogen? Auch nach Ihrem Tod war die Oma für ihn immer noch eine wichtige Bezugsperson.
Auch morgen besuchen wieder viele Menschen Friedhöfe oder Friedwälder. Viele werden auch mit dem Auto, dem Bus oder der Bahn dahinfahren, wo ihre lieben Angehörigen, die im vergangenen Jahr oder vor langer Zeit verstorben sind, Ihre letzte Ruhe gefunden haben. Welche Erinnerungen und wieviel Schmerz wird sie begleiten. Die Ehepartner, Mütter, Väter, Kinder, Freunde und Nachbarn die nicht mehr sind.
Einmal im Jahr fahre auch ich an unser Familiengrab, wo meine Eltern und Großeltern bestattet sind. Das sind dann besondere Momente der Erinnerung an Jugend und Kindheit. In Leipzig ist der Südfriedhof einer meiner Lieblingsorte geworden. Nicht nur wegen der blühenden Rhododendren im Mai, einfach im Trubel der Großstadt ein Ort der Ruhe. Große Monumentalgrabstätten erinnern an längst vergangene Zeiten. Heute prägen Urnen- und Gemeinschaftsgräber das Bild. Und in weiten Flächen hat sich der Friedhof in einen Naturpark verwandelt. Als Zeichen der Erinnerung liegen Gestecke oder frische Blumen auf den Gräbern und Grablichter zeichnen besonders in der Dämmerung eine besondere Stimmung. Samstag- oder Sonntagnachmittags ist es allerdings ganz anders. Wenn im Bruno-Plache-Stadion ein Fußballspiel läuft, durchbrechen die Fangesänge die Stille. Dann sind die Lebenden und die Toten plötzlich miteinander verbunden. An einem Grab verweile ich, dessen Inschrift mich hoffen lässt. Dort steht ein Vers aus der Bibel: "Führe ich gen Himmel, so bist du da; bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da. Nehme ich Flügel der Morgenröte und ließe mich nieder am äußeren Ende des Meeres, auch dort würde deine Hand mich leiten und deine Rechte mich fassen." Wenn mich Gott so hält - im Leben wie im Sterben - das tut gut.
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