Donnerstag, 12.10.2023: Kostbare Gebärde
"Durch mich hindurch fließen breite Flüsse und in mir erheben sich hohe Gebirge. Und hinter dem Gestrüpp meiner Unruhe und Verwirrungen erstrecken sich die weiten Ebenen meiner Ruhe und Hingabe. Alle Landschaften sind in mir vorhanden. Es ist auch Platz da für sie alle. In mir ist die Erde und in mir ist auch der Himmel. Und dass Menschen so etwas wie die Hölle erfinden können, ist mir völlig verständlich - ich habe sie früher für ein ganzes Leben im Voraus erlebt."
Im Oktober vor 81 Jahren schreibt die junge Frau Etty Hillesum diese Worte in ihr Tagebuch. Sie ist Jüdin und lebt in den Niederlanden unter der Gewalt des Naziterrors. Sie will an der Seite derjenigen sein, die im Konzentrationslager Westerbork gefangen und gefoltert werden, bevor sie nach Auschwitz deportiert werden.
Ich lese ihr Tagebuch von damals und denke an die Frauen und Männer, die beim Terroranschlag der Hamas Anfang der Woche als Geiseln genommen wurden. Wo auch immer sie jetzt gerade sind. Ich denke an ihre Angehörigen zwischen Hoffen und Bangen. Ich fürchte, dass die oft jungen Menschen keine Chance mehr bekommen, ihr Leben weiterzuleben; dass sie die zur Schau gestellten Opfer sein werden zwischen Aggression und Gegengewalt der Kriegsparteien in Israel.
Ich denke an die Geiseln und Gefangenen und lese den Tagebucheintrag der jungen jüdischen Frau Etty Hillesum vom 10. Oktober 1941:
"Ich glaube, ich kann alles in diesem Leben und in dieser Zeit tragen und verarbeiten. Und wenn mein Ungestüm zu groß ist und ich überhaupt keinen Rat mehr weiß, dann bleiben mir immer noch zwei gefaltete Hände und ein gebeugtes Knie. Es ist eine Gebärde, die bei uns Juden nicht von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Ich musste sie mühsam erlernen. Es ist mein kostbarstes Erbe… Was war das im Grunde für eine seltsame Geschichte von mir: Von dem Mädchen, das nicht knien konnte. Oder als Variation: Von dem Mädchen, das beten lernte. Es ist meine intimste Gebärde, intimer als jede Gebärde im Zusammensein mit einem Mann." (Etty Hillesum, Ich will die Chronistin dieser Zeit werden, München 2023, S. 692f.)
Etty Hillesum findet Halt im Gebet, wird aber wie viele andere ihrer jüdischen Mitmenschen um ihr junges Leben gebracht. Die Bilder aus Israel jeden Tag zwingen in die Knie. Mein Gebet gilt heute besonders denen, die als Geiseln in der Gewalt brutaler Mächte und Menschen ausharren müssen. Gott, bleib an ihrer Seite.