Donnerstag, 10.08.2023: Eine Ahnung von Gott
Ende Juli ist Martin Walser gestorben. Ein Buch von ihm steht in meinem Schrank, weil es eine Frage berührt, die mich als Pfarrer umtreibt. Wie lebt man in einer Welt, die sich entschieden hat, ohne Gott auskommen zu können? Religion und Glaube werden zwar noch gelebt, aber die Möglichkeit, dass es keinen Gott gibt, ist in der Kulturgeschichte des Westens gründlich durchgedacht worden und wird von einer breiten Bevölkerung inzwischen auch praktiziert.
Das mag eine Befreiung sein für viele, die sich über die Jahrhunderte hinweg von der Kirche bevormundet fühlten. Für die Sensibleren aber tut sich eine Lücke auf, die für sie durch andere Sinnangebote nicht befriedigend gestillt werden kann.
Martin Walser ist, glaube ich, so einer. Er bekennt sich als Atheist, und doch kann er formulieren: "Wer sagt, es gäbe Gott nicht, und nicht dazusagen kann, dass Gott fehlt und wie er fehlt, der hat keine Ahnung; einer Ahnung aber bedarf es." (M. Walser, Über Rechtfertigung, eine Versuchung, Reinbeck ²2012, S. 33) In seinem Roman "Muttersohn" heißt es, "dass unsere Ahnungen klüger sind, als das, was wir bloß wissen."
Und dann spricht er von einer schmerzlichen Lücke. Menschen der Postmoderne wüssten nicht mehr, was die Religion unter Rechtfertigung versteht. Im gesellschaftlichen Diskurs der Neuzeit genüge es, Recht zu haben oder Recht zu bekommen. Um mit sich selbst im Reinen zu sein, begnügt der moderne Mensch sich damit, auf der Siegerseite zu stehen.
Da greifen Religion und Gottesglaube tiefer. Mit Berufung auf den Apostel Paulus, den Kirchenvater Augustin, und nicht zuletzt Martin Luther plädiert Martin Walser dafür, dass diese Frage wachgehalten werden muss: Wer spricht ein gnädiges Urteil über mich, wenn - ehrlich betrachtet - meine Arbeitsleistung mich nicht rettet, mein Lebenslauf kein rundes Ganzes ergibt, meine guten Seiten immer auch ihre Schattenseiten haben.
Im "Reizklima des Rechthabenmüssens", so sagt er, ist wenig Platz für Gnade. Gnädige Menschlichkeit, nicht darum, um sich selbst als besseren Menschen dastehen zu lassen, sondern Gnade, die keine Gegenleistung erwartet.
Ich nenne sie ein Geschenk, das nur von Gott kommen kann. Aber ich weiß, dass viele nicht mehr zuhören, wenn das Wort "Gott" fällt. Wir werden in der Kirche deshalb eine andere Sprache finden müssen, um über den tiefen Sinn des Lebens gesprächsfähig zu bleiben.
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