Paragraf 218 gestern und heute Schwangerschaftsabbruch: "Die schwerste Entscheidung meines Lebens"
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05. März 2024, 12:58 Uhr
Am 9. März 1972 wird in der DDR ein Gesetz beschlossen, dass Schwangerschaftsabbrüche erlaubt. Betroffene Frauen wurden trotz anders lautender Verpflichtung kaum beraten. Nach der Wiedervereinigung veränderte sich die Rechtslage. 1995 wurde nach einer hitzigen Debatte die "Fristenlösung mit Beratungspflicht" beschlossen. Seitdem machen sich behandelnde Ärztinnen und Ärzte sowie betroffene Frauen unter bestimmten Bedingungen strafbar – und ein neues Problem scheint sich nun auch im Osten aufzutun.
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Margitta Zellmer, Jahrgang 1954, ist 25 Jahre alt, als sie ihr Philosophie-Studium abschließt. Zu diesem Zeitpunkt hat sie bereits einen Sohn. Kurz nach dem Abschluss wird sie wieder schwanger und entscheidet sich für eine Abtreibung: "Ich wollte loslegen. Mit einem Kind kann man noch Kompromisse eingehen, doch mit einem zweiten Kind hätte ich den Anschluss verloren. Das wollte ich nicht."
Niemand habe versucht, sie umzustimmen. Rückblickend meint sie, die eindeutige Gesetzeslage in der DDR habe ihr in dieser Situation geholfen.
Am 9. März 1972 wurde in der DDR die so genannte Fristenlösung eingeführt. Demnach waren Abbrüche bis zur 12. Schwangerschaftswoche erlaubt, straffrei und kostenlos. Basierend auf diesem Recht entscheidet sich Margitta Zellner Ende der 1970er-Jahre gegen ein drittes Kind. Sie sagt, selbst über ihre Situation bestimmen zu können, sei "ein großer Schritt zur Emanzipation der Frau" gewesen.
Abbrüche gehören zum medizinischen Alltag in der DDR
Zur gleichen Zeit, Ende der 1970er-Jahre, schließt die Gynäkologin Viola Hellmann ihr Medizin-Studium in Leipzig ab. Schwangerschaftsabbrüche gehören damals zum medizinischen Alltag und der Eingriff somit auch zur Facharzt-Ausbildung. Als sie ihre Laufbahn im Dresdner städtischen Krankenhaus beginnt, werden dort etwa 1.000 Abbrüche pro Jahr vorgenommen. Die Arbeit empfand sie teils als "fließbandartig".
Bis zum Ende der 1980er-Jahre wird in der DDR jede dritte Schwangerschaft abgebrochen. Die kostenlose Abgabe der Pille, die das Gesetz von 1972 ebenfalls vorschreibt, tut ein Übriges, um die Geburtenrate dramatisch sinken zu lassen. Eine 1979/80 in zahlreichen Frauenkliniken durchgeführte Studie moniert jedoch, dass der ausdrücklich vorgeschriebenen Beratungspflicht zu wenig nachgekommen werde. Doch in Frage gestellt wird die Regelung kaum.
DDR-Kirchen kritisieren Abtreibungspraxis
Die Kirchen kritisieren Rechtslage und Praxis. Der evangelische Christ Wolfgang Böhmer, damals Gynäkologe und später CDU-Ministerpräsident Sachsen-Anhalts, arbeitet im Jahr 1972 als Oberarzt an der Frauenklinik in Görlitz. Aus der gängigen Abtreibungspraxis zieht er Konsequenzen und geht 1973 in ein christliches Krankenhaus, wo Abbrüche nicht vorgenommen werden müssen.
Nach der Wende kämpft er dafür, dass das liberale DDR-Abtreibungsrecht nicht in die gesamtdeutsche Gesetzgebung übernommen, sondern verschärft wird: "Es gab keine medizinische Indikationsstellung mehr. Damit wurden die Ärzte zum Handlanger degradiert."
"Manchmal läuft das Leben anders, als man es sich wünscht"
Die Dresdner Gynäkologin Viola Hellmann stellt fest, dass die Gründe, warum eine Schwangerschaft nicht gewollt ist, damals oft die gleichen wie heute sind: Die soziale Lage und Partnerschaftskonflikte sind oft ausschlaggebend: "Ich habe viele Frauen getroffen, die nie gedächt hätten, einmal vor der schwerwiegenden Entscheidung einer Abtreibung zu stehen, zum Beispiel Pfarrersfrauen. Manchmal läuft das Leben anders, als man es sich wünscht."
Von den unterschiedlichen Lebenssituationen der Frauen, die ungewollt schwanger werden, kann auch Kornelia Schmidt ein Lied singen. Sie arbeitet in der Schwangerenkonfliktberatung von Donum Vitae in Dresden. Der private und regional aufgestellte Verein wurde 1999 von deutschen Katholiken gegründet, nachdem Papst Johannes Paul II. katholischen Beratungsstellen das Ausstellen eines Beratungsscheins untersagt hatte.
Zu Schmidt kommen Teenager genauso wie Frauen in ihren Fünzigern: "Der Konflikt liegt darin, dass es sowohl um den Lebensentwurf der Frau, ihre Ziele und Kräfte als auch um die Lebensmöglichkeit des Ungeborenen geht."
Für Frauen mit christlichem Glauben wiege die Entscheidung besonders schwer, sagt Schmidt. Nach ihrer Ansicht schenke Gott das Leben und nur er dürfe es nehmen: "Da einzugreifen, ist schon ein schwieriger Schritt."
Donum Vitae e.V.
Die rund 320 Beraterinnen und Berater von Donum Vitae werden von mehr als 1.000 ehrenamtlich Engagierten in 14 Bundesländern unterstützt. Der Verein wurde 1999 gegründet und ist gemeinnützig. Die staatlich anerkannten Beratungsstellen von Donum Vitae sind berechtigt, einen Beratungsnachweis gemäß § 219 StGB auszustellen.
Seit 1995 steht Abtreibung unter Strafe
1995 beschließt die damalige Bundesregierung die noch heute gültige Fristenlösung mit Beratungspflicht. Demnach sind Schwangerschaftsabbrüche grundsätzlich gesetzeswidrig, bleiben aber bis zur 13. Schwangerschaftswoche und nach einer verpflichtenden Beratung straffrei.
Die Dresdner Gynäkologin erzählt, sie sei von dem Beschluss damals überrascht gewesen. Sie habe sich nicht vorstellen können, dass Schwangerschaftsabbrüche unter Strafe gestellt werden könnten oder zumindest Strafe angedroht wird. Positiv findet sie nur die Beratungspflicht.
So eine Beratung solle zielorientiert, aber ergebnisoffen verlaufen, erklärt die christliche Beraterin Kornelia Schmidt. Ihr persönlich ist dabei wichtig, das Lebensrecht des Kindes nicht aus dem Blick zu verlieren.
Entscheidungsfreiheit von Frauen beschränkt
Dagegen setzt Ulrike Busch, Professorin für Familienplanung i.R., den Fokus auf die Perspektive der betroffenen Frauen.
An ein Recht auf freie Entscheidung von Frauen erinnere das geltende Recht kaum: "Schon im ersten Satz des Paragraphen steht, dass es sich bei einer Abtreibung um einen Straftatbestand, der mit Gefängnis oder Geld geahndet werden kann. Das gilt für behandelnde Ärzte und betroffene Frauen."
Als Margitta Zellmer Ende der 1970-Jahre in der DDR zum Schwangerschaftsabbruch ins Krankenhaus geht, hat sie Angst, wie man ihr begegnen wird. Doch sie wird korrekt behandelt, allerdings nicht beraten.
Drohende Versorgungslücke?
Heute können Frühtests schon nach zehn Tagen eine Schwangerschaft anzeigen, es gibt mehr Verhütungsmöglichkeiten als zu DDR-Zeiten und die Beratungspflicht. Wie ein Abbruch medizinisch korrekt durchgeführt wird, kommt im Medizinstudium allerdings kaum noch vor. Wie eine Abtreibung praktisch vonstatten geht, lernen angehende Mediziner erst in der Facharztausbildung. Hinzu kommen die mangelnde Akzeptanz oder Anfeindungen durch Abtreibungsgegner. All das hat Folgen für die Versorgung betroffener Frauen, denn immer weniger Gynäkologinnen und Gynäkologen bieten eine Abtreibung überhaupt an. Laut Statistischem Bundesamt sank die Zahl der Praxen und Kliniken, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, zwischen 2003 und 2018 um 40 Prozent.
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Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Nah dran | 23. September 2021 | 22:40 Uhr