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Rabbinerin Esther Jonas-Märtin Bildrechte: MDR/ Michaela Weber
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Zu beten heißt, die Wirklichkeit wahrzunehmen und zu sehen, wie es anders sein könnte. Ein aufrichtiges Gebet braucht deshalb Offenheit und Frechheit.

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Schabbat Schalom | 15.11.2024 Wochenabschnitt Vayera - eine Aufforderung zur Zivilcourage

18. Oktober 2024, 04:00 Uhr

Zu beten heißt, die Wirklichkeit wahrzunehmen und zu sehen, wie es anders sein könnte. Ein aufrichtiges Gebet braucht deshalb Offenheit und Frechheit, meint die Leipziger Rabbinerin Esther Jonas-Märtin in ihrer Auslegung des Wochenabschnitts "Vayera".

Die Lesung dieser Woche beginnt mit drei Gästen, die bei dem inzwischen alt gewordenen Abraham und seiner Frau Sarah ankommen. Die Gäste prophezeien den beiden das langersehnte Kind, das den Namen Isaac erhalten wird.

G'tt will die beiden Städte Sodom und Gomorra als Strafe für deren Sünden zerstören, während Abraham sein Bestes tut, G'tt davon zu überzeugen, Sodom und Gomorra zu verschonen, wenn es nur genug gerechte Menschen darin gäbe. G'tt fordert von Abraham, seinen Sohn Isaac zu opfern, dann jedoch wird ein Widder als Opfer akzeptiert - es war nur ein Test.

Das Bemerkenswerteste an dieser Lesung ist die Tatsache, dass Abraham mit G'tt verhandelt. Er tritt für die Interessen der Städte Sodom und Gomorra ein. Er fragt G'tt: "Wirst du wohl den Unschuldigen mit dem Schuldigen töten?" (Genesis 18:23) Er hinterfragt die Moral und die Gerechtigkeit G'ttes, sollte G'tt die Städte zerstören.

Es ist bemerkenswert, dass Abraham hier für das Leben jedes einzelnen argumentiert, aber als er seinen Sohn opfern soll, gibt es kein Argumentieren Abrahams. Abraham geht es also nicht um sein persönliches Glück oder Unglück, sondern um die Existenz zweier Städte und deren Bewohner.

Im Midrasch, einem Teil rabbinischer Literatur, beschreiben die Rabbiner diese Auseinandersetzung Abrahams mit G'tt als Gebet, sogar als die höchste Form des Gebets. Es wird als höchste Form des Gebets wahrgenommen, weil Abraham die Wahrheit gegenüber der Macht spricht und damit zum Beispiel für Zivilcourage par excellence wird.

Das Gebet dreht sich demnach nicht darum, eigene Bedürfnisse oder Wünsche zu formulieren:  Ganz im Gegenteil verstehen die jüdischen Gelehrten das Gebet als subversives Element, als innerste Stimme für Wahrheit und Ringen um Gerechtigkeit.

Abraham hinterfragt die Gerechtigkeit G'ttes, die eine göttliche Gerechtigkeit ist, also jenseits von menschlichen Standards oder menschlich Machbarem.

Eine Gerechtigkeit, so argumentiert Abraham, die kein Mitgefühl, kein Mitleid und keine Großzügigkeit kennt, ist keine wirkliche Gerechtigkeit. Aufrichtiges Gebet braucht Offenheit und Chutzpah, auf Deutsch: Frechheit.

Es geht um die mentale Stärke, uns aufrichtig mit allem auseinanderzusetzen, was um uns und in uns ist. Es ist die Fähigkeit zu sehen, wie es anders sein könnte.

Abrahams Aufrichtigkeit und seine Vision einer anderen Möglichkeit eröffnet auch für G'tt die Möglichkeit einer anderen Version der Geschichte.

Angesichts dessen, was aktuell um uns herum geschieht, können wir den Kopf in den Sand stecken und uns verstecken.

Oder wir können uns vorstellen, wie die Welt aussehen soll, in der wir leben wollen. Wir können unsere Phantasie nutzen, und wir können Ideen entwickeln.

Wenn wir Abraham folgen und es wagen, Wahrheiten auszusprechen, dann können wir die Welt mitgestalten. Wenn wir Abraham folgen, dann treten wir ein für Menschlichkeit, Mitgefühl und Hoffnung.

Schabbat Schalom!

Zur Person: Rabbinerin Esther Jonas-Märtin Esther Jonas-Märtin absolvierte Jüdische Studien, studierte Literaturwissenschaft, Moderne Geschichte und Religionswissenschaften in Leipzig und Potsdam und erwarb 2006 den Master of Arts.

2017 schloss sie ihr Studium zur Rabbinerin mit dem Master of Arts in Rabbinics und der Rabbinischen Ordination in Los Angeles ab.

Sie ist Initiatorin und Gründerin des Lehrhauses Beth Etz Chaim in Leipzig (2018) sowie Referentin und Autorin einer Vielzahl von Artikeln und Beiträgen in den Themenbereichen: moderne jüdische Geschichte, Gender, Jiddische Poesie, Jüdische Ethik und Judentum.

Schabbat Schalom bei MDR KULTUR Die Sendung bezieht sich auf die jüdische Tradition, die fünf Bücher Moses im Gottesdienst der Synagoge innerhalb eines Jahres einmal vollständig vorzulesen. Dabei wird die Thora in Wochenabschnitte unterteilt. Zugleich ist es häufige Praxis, die jeweiligen Wochenabschnitte auszulegen.

Bei MDR KULTUR geben die Autorinnen und Autoren alltagstaugliche Antworten auf allgemeine Lebensfragen, mit denen sie auch zur persönlichen Auseinandersetzung anregen. Zugleich ist "Schabbat Schalom" eine Einführung in die jüdische Religion, Kultur und Geschichte.

"Schabbat Schalom" ist immer freitags um 15:45 Uhr bei MDR KULTUR zu hören sowie online abrufbar bei mdr.de/religion.

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 15. November 2024 | 15:45 Uhr