Emanuel Ringelblum-Archiv Der jüdische Blick: Zeugnisse über das Leben im Warschauer Ghetto
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26. April 2024, 11:00 Uhr
Vor 81 Jahren, im April 1943, erhoben sich Juden im Warschauer Ghetto und kämpften gegen ihre drohende Deportation. Vier Wochen dauerte der ungleiche Kampf zwischen den kaum bewaffneten jüdischen Widerstandskämpfern und den hochgerüsteten SS-Truppen. Wenn man heute daran erinnert, dann meist mit Bildern deutscher Soldaten und SS-Männer. Doch es gibt andere Dokumente: zum Beispiel das Emanuel Ringelblum-Archiv. In Deutschland nur Experten bekannt, soll es nun populärer gemacht werden.
Keine Dokumentation über das Warschauer Ghetto kommt ohne das Bild eines kleinen Jungen mit Ballonmütze aus, der mit erhobenen Händen ängstlich in die Kamera blickt. Fotografiert hat den kleinen Jungen ein Deutscher. Es ist der deutsche Blick, sagt Professorin Andrea Löw vom Zentrum für Holocaust-Studien des Münchener Instituts für Zeitgeschichte.
Ich plädiere dafür, dass wir, wenn wir diesem Blick der Täter folgen, das auch deutlich machen und darüber reden, was das für einen Blick ist, und warum diese Fotos entstanden sind.
Die Bilder zeigen die jüdischen Bewohner des Ghettos im Augenblick ihrer Niederlage. Viele sind Teil einer zynischen Dokumentation des SS-Brigadeführers Jürgen Stroop, überschrieben mit "Es gibt keinen jüdischen Wohnbezirk in Warschau mehr!"
Andere stammen aus deutschen Propagandafilmen oder wurden von deutschen Soldaten während ihrer Sightseeing-Touren durchs Ghetto geknipst.
Sammlung von jüdischen Dokumenten und Alltagsgegenständen
Doch es gibt auch die jüdische Sicht vom Leben im Warschauer Ghetto. Rund 250 Fotografien, dazu zahllose andere Dokumente aus dem Untergrundarchiv des Warschauer Ghettos, gegründet 1941 von dem Historiker Emanuel Ringelblum.
"Ringelblum hat das Ganze unter der Prämisse gesehen, allseitig und objektiv das Leben der polnischen Juden zu dokumentieren und hat deshalb wirklich alles gesammelt und sammeln lassen, was im Ghetto produziert wurde: Theatereinladungen, Schulaufsätze von Kindern. Interviews haben die Aktivisten selber geführt mit Leuten, die sonst nicht schreiben. Vor allem aber haben sie versucht Dokumente zu sammeln, die das Leben individueller Menschen zeigen, also Tagebücher, Briefe, Berichte", so die Historikerin Löw.
40 Bände umfasst die polnische Edition des Untergrundarchivs, das auch als Oneg Schabbat-Archiv bekannt ist. Sie zeigen, es gab bei allem Elend und Repressalien Solidarität, es wurde gesungen, Theater gespielt, es wurde unterrichtet. Aber die Berichte erzählen auch von Schattenseiten eines Lebens in bedrückender Enge und großer Not: von Prostitution, Kriminalität, Schmuggel und Korruption.
Diese ganzen verschiedenen Handlungsweisen, wie Menschen reagiert haben und ganz normal versucht haben, einen Alltag zu organisieren und zu überleben. Das ist die eigentliche Heldengeschichte dieser Menschen.
Wiederentdeckung der versteckten Dokumente
Im Sommer 1942, als die Massendeportationen in die Vernichtungslager begannen, wurden die Dokumente in Kisten vergraben. 1946 und 1950 wurden sie wiederentdeckt. Fachhistorikern sind sie seit langem bekannt, darüber hinaus spielen sie kaum eine Rolle. Was mit ihrem einzigartigen Charakter zusammenhängt.
Deutsche Historiker beschäftigten sich jahrzehntelang mit den Tätern und ihrer Sicht auf die Vorgänge im Ghetto. Und in der jüdischen Historiografie wollte man nicht die Erniedrigung der Menschen in den Vordergrund stellen,
"Das war auch nicht die Art und Weise, wie sich die Überlebende und auch jüdische Gemeinschaften weltweit erinnern wollten an diese Zeit. Man muss mit der Erinnerung ja auch leben können", erklärt Monika Heinemann vom Leipziger Leibniz-Institut für Jüdische Geschichte und Kultur.
Das Untergrundarchiv bietet einzigartige Möglichkeiten für eine lebendige Erinnerungskultur, erlebt Andrea Löw in Schulen. Es gibt dort Erzählungen von Jugendlichen, so alt wie die Schüler, über ihre erste Liebe, über ihre Träume, Sehnsüchte, Berufswünsche. 400.000 Menschen lebten im Warschauer Ghetto. Die geretteten Dokumente und Aufzeichnungen geben ihnen ihre Individualität zurück. Emanuel Ringelblum hat mit dem Archiv sein Ziel erreicht: Der deutschen Täterperspektive die jüdische Sichtweise entgegenzustellen.
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | Religion und Gesellschaft | 26. April 2024 | 16:10 Uhr