Das Warschauer Ghetto "Geheimsache Ghettofilm" - Der inszenierte Alltag im Ghetto
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13. November 2020, 14:00 Uhr
Wie sah der Alltag im Warschauer Ghetto aus? Filmaufnahmen der Nazionalsozialisten schienen das festzuhalten, bis sich Jahrzehnte später herausstellte, dass die gefilmten Alltags-Szenen bis ins Detail gestellt waren.
"Geheimsache Ghetto" - so nannte Filmregisseurin Yael Hersonski ihre Dokumentation über das Filmmaterial der Nazis aus dem Warschauer Ghetto. Die SS hielt darin den vermeintlichen Alltag im Ghetto fest: In exakt inszenierten Szenen mussten Ghetto-Bewohner genau definierte Szenen spielen.
Akribisch inszenierter "Volks-Charakter"
Ein NS-Filmteam dreht im Mai 1942 im Warschauer Ghetto – wenige Wochen bevor dort die Deportationen und der Massenmord an der jüdischen Bevölkerung beginnen. Das Filmmaterial scheint das Leben im Ghetto abzubilden. Doch die Szenen sind von den Nazis gestellt, die gezeigten Bilder dienen der Propaganda und beleuchten das Leben im Ghetto bis ins Detail – Inszenierungen, die das angeblich "luxuriöse" Leben dort zeigen sollen. Die Nazis inszenierten dafür absurde Situationen: Eine Beschneidung in einem privaten Zimmer, statt in einer Klinik; Szenen von Menschenmassen bei einer prachtvollen Bestattung mit luxuriösem Leichenwagen – ungeachtet der Tatsache, dass Juden nicht im Sarg begraben werden; reich angezogene Paare, die scheinbar fröhlich und ungezwungen in Restaurants schlemmen, während draußen vor dem Fenster Menschen in Lumpen um Almosen betteln.
Das "Luxus-Leben" im Ghetto ist inszeniert
Yael Hersonskis Film beleuchtet das ungeschnittene Nazi-Filmmaterial neu: Zeitzeugen aus dem Ghetto erzählen von den Dreharbeiten der Nazis. Tagebucheintragungen von Ghetto-Bewohnern berichten ebenfalls über die Filmarbeiten, wie "Darsteller" von der Straße weg vor die Kamera geholt wurden. Mit diesem Wissen sieht der Zuschauer die Filmszenen in einem neuen Licht: Das Bild einer Frau, die sich in luxuriösen Schlafzimmern scheinbar entspannt vor einem Spiegeltisch schminkt – nicht die Besitzerin oder Bewohnerin der luxuriösen Wohnung. Denn 1942 sind die Ghetto-Bewohner längst in fremden Wohnungen zusammengepfercht und zwar familienweise in je einem Zimmer. Die Frau vor dem Luxus-Spiegel ist einfach eine jüdische Ghetto-Bewohnerin, die sich für die Filmaufnahme so vor dem Spiegel inszeniert, wie es die Filmemacher ihr vorschreiben. Wie alle "Darsteller" spielt sie vor der Kamera um ihr Leben. Nur zwei Monate nach den Dreharbeiten beginnen die Nazis mit der Deportation der Menschen aus dem Ghetto ins Todeslager Treblinka.
Ein zehnjähriger Zeitzeuge berichtet
Ein Zeitzeuge, der als Zehnjähriger das Ghetto erlebte, schildert in "Geheimsache Ghettofilm", wie auf dem Markt für die Filmarbeiten Gänse herbeigeschafft wurden. Es sollte festgehalten werden, wie vermeintlich "gut" es den Juden doch im Ghetto ging. Ein ähnliches Bild über das "paradiesische jüdische Leben" wird erzeugt, indem Männer und Frauen von der Straße ins Restaurant "Shulze" geholt werden, und dort – auf Kosten der Jüdischen Gemeinde – Fisch, Fleisch, Likör, Gebäck und andere Delikatessen bestellen und genießen müssen – gefilmt von den Deutschen. Die jüdischen Mädchen, die die Kellnerinnen darstellen mussten, die danach draußen fröhliche Gesichter zeigen sollten, während Kinder, ebenfalls von der Straße herbeigeschafft, bettelnd mit ausgestreckten Händen an ihnen vorbeiziehen mussten.
Wo war das Warschauer Ghetto?
Die jüdische Gemeinde Warschaus war bis 1939 die größte Europas. Im Herbst 1940 wurde nach dem deutschen Überfall auf Polen das Warschauer Ghetto errichtet. In das von den deutschen Behörden "Jüdischer Wohnbezirk in Warschau" genannten Gebiet wurden vor allem die Juden Warschaus, aber auch anderer unter deutscher Kontrolle stehende polnische Gebiete deportiert. Es befand sich in der Altstadt im Stadtteil Wola zwischen dem Jüdischen Friedhof, dem Bahnhof Warszawa Gdańska und dem Hauptbahnhof Dworzec Główny.
Ähnlich die Aufnahme einer scheinbar reichen, jungen Frau neben einer Frau in Lumpen – die eine kann die andere nicht anschauen – auf den ersten Blick sind es Blicke der Abscheu, mit denen sie sich streifen. Mit dem Wissen um die schreckliche Situation der Gefilmten lesen sich die Blicke anders – Scham, Angst und Mitleid füreinander offenbaren sich. Auch hinter Aufnahmen von Gesellschaften in festlicher Abendgarderobe steckt etwas anderes, als man auf den ersten Blick meint: Die scheinbar fröhlich Feiernden waren Männer und Frauenm, die willkürlich zusammengeholt wurden, dann von feinen Gedecken gemeinsam aßen und sich mit Kristallgläsern zuprosteten – gestellte Szenen, an einem Vormittag gedreht.
Über die Dreharbeiten berichtet auch ein Kamermann
In der Dokumentation kommt auch ein Kameramann, den die SS angeheuert hatte, zu Wort. Seine Aussagen über die Dreharbeiten im Ghetto sind in der Dokumentation von einem Schauspieler nachgesprochen. Seine Filmarbeiten von 1942 zeigen, wie ihm die SS-Männer Menschen vor die Kamera treiben, die gerade zu den benötigten Aufnahmen passen. "Zu Zwischenfällen" ist es ihm zufolge "bei den Dreharbeiten nie gekommen" – man sieht jedoch in seinem Rohmaterial Aufnahmen prügelnder SS-Männer.
Wie soll man mit Propaganda-Material umgehen?
Das ungeschnittene Rohmaterial aus dem Ghetto wurde Jahre nach dem Holocaust von Filmemachern benutzt – Bilder des Ghettolebens, exakt so, wie es die Nationalsozialisten für ihre Zwecke inszeniert hatten. Wie die Situationen und Bilder im Ghetto tatsächlich entstanden, wird nicht erläutert und nicht thematisiert.
Filmregisseurin Yael Hersonski ändert den Blickwinkel auf dieses Filmmaterial mit "Geheimsache Ghettofilm": Was zeigen Ghetto-Aufnahmen wirklich? Ihr Film zeigt nicht nur die Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung im Ghetto und den propagandistischen Zielen des NS-Regimes. Sie berührt auch die Frage nach der Authentizität der Bilder der Täter: Wie sollte NS-Filmmaterial heute genutzt werden und was zeigt es wirklich?
Der Artikel erschien erstmals im April 2016.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Geheimsache Ghettofilm - Das Warschauer Ghetto und die Propaganda der Nazis | 08. Dezember 2010 | 20:15 Uhr