Nachgefragt Wie verbreitet ist Antisemitismus unter Christen?
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12. November 2023, 04:00 Uhr
Die Spitzen der evangelischen und katholischen Kirche in Mitteldeutschland haben angesichts der zunehmenden Angriffe auf jüdische Menschen und Einrichtungen in Deutschland deutliche Worte gefunden. Sind die großen Kirchen also ein Bollwerk gegen Antisemitismus? Eine Leipziger Studie hat antisemitische Einstellungen bei Christen untersucht. Wie verbreitet sie sind, woher sie kommen und was sich dagegen tun lässt, wollten wir von Wissenschaftlern und Kirchenvertretern wissen.
Der Kirchensoziologe Gert Pickel von der Universität Leipzig hat die Verbreitung von antisemitischen Ressentiments unter Christen in Deutschland erforscht. Das Ergebnis war für ihn wenig überraschend: "Diese Ressentiments sind genauso verbreitet wie in der Gesamtbevölkerung. Kirche ist halt auch nicht anders als Gesamtbevölkerung", erklärt Pickel und fügt hinzu, der "klassische" Antisemitismus sei unter evangelischen Christen etwas weniger ausgeprägt als im Rest der Gesellschaft.
Spielarten des Antisemitismus
Doch es gebe auch Formen, in denen sich Vorurteile über Umwege äußere: Etwa, wenn das Gedenken an den Holocaust abgelehnt oder dem Staat Israel die Existenzberechtigung abgesprochen werde. Diese Form des Antisemitismus ist laut Pickel auch unter Kirchenmitgliedern weit verbreitet. So glauben 30 Prozent der Katholiken und 26 Prozent der Protestanten, dass Israels Palästina-Politik genauso schlimm sei wie die Politik der Nazis im Zweiten Weltkrieg. Insgesamt halten 69 Prozent der Katholiken und 63 Prozent der Protestanten diesen Satz zumindest nicht für falsch.
Ein deutlicher Kontrast zur und ein Problem für die Kirchenleitung, wie Pickel weiter ausführt: "Die Mitglieder, die antisemitische Überzeugungen, Ressentiments haben, die lassen sich durch Verlautbarungen der Kirche relativ schwer erreichen. Die könnte man nur im persönlichen Gespräch überzeugen."
Die Mitglieder, die antisemitische Überzeugungen haben, lassen sich durch Verlautbarungen der Kirche relativ schwer erreichen.
Antijudaismus als Teil der christlichen Ideengeschichte
Den Politologen Henning Flad, der den Bundesarbeitskreis Kirche und Rechtsextremismus leitet, wundern diese Zahlen nicht: "Ein wesentlicher Faktor dafür ist, dass es eine tief verankerte, lange Geschichte des Antijudaismus als Teil der christlichen Ideengeschichte gibt. Das beginnt eigentlich schon mit der Gründung des Christentums und ist seitdem immer weiter tradiert worden."
Nach der Schoah, so Flad, sei von den Kirchen eine neue Theologie etabliert worden, die Juden nicht mehr als "die Anderen" beschreibe, von denen sich Christen abgrenzten. Stattdessen hebe sie die Gemeinsamkeiten zwischen Christentum und Judentum hervor. Doch das sei vor allem ein Projekt der Kirchenleitungen und intellektuellen Eliten gewesen. Deshalb zeigten die alten Traditionen heute noch Wirkung: "Das Problem an dieser Ideengeschichte ist, dass sie so etwas wie eine emotionale Tiefengrundierung geschaffen hat. Das führt dazu, dass sich Menschen betroffen zeigen, wenn es einen Angriffskrieg auf die Ukraine gibt. Dieselben Menschen sind aber nicht in der Lage emotional zu reagieren, wenn es einen schlimmen Terrorangriff auf Israelis gibt."
Es gibt so etwas wie eine emotionale antijudaistische Tiefengrundierung. Dieselben Menschen zeigen sich betroffen vom Angriffskrieg auf die Ukraine, reagieren aber nicht auf den Terrorangriff auf Israelis.
Plädoyer für mehr Anteilnahme – Bildung
Eine ähnliche Beobachtung hat auch der Leiter der katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen, Thomas Arnold, gemacht: "Ich erlebe in christlichen Gemeinden nicht Hass. Ich erlebe eher ein Desinteresse, bei dem ich sagen würde: Natürlich haben wir im Moment in Deutschland auch genug Krisen, mit denen wir fertig werden müssen. Und trotzdem wünsche ich mir mehr Anteilnahme von diesem Land für die Situation von Jüdinnen und Juden."
Ich wünsche mir mehr Anteilnahme an der Situation von Jüdinnen und Juden.
Das Ressentiment führt also vor allem zur Indifferenz jüdischen Menschen gegenüber. Doch Vorurteile abzubauen, ist schwierig. Arnold sieht vor allem zwei Wege: Einen dauerhaften Dialog, durch den sich Christen und Juden wirklich kennenlernen. Und – Bildung: "Es ist ein guter Ansatz, gerade mit der jungen Generation zu sprechen, damit sich nicht fortsetzt, was an Meinungen vielleicht schon da ist. Und es ist jetzt auch der Moment, die historischen Gründe für den Konflikt zu erklären, in der Hoffnung, dass man damit Vorurteile abbaut."
Aufarbeitung von Geschichte und Familiengeschichten nötig
Henning Flad plädiert für ebenfalls für eine Auseinandersetzung mit den eigenen Ressentiments – auch auf persönlicher Ebene. Denn: "Diese Form von christlichem Antijudaismus hat den Nationalsozialismus und die Schoah mindestens begünstigt, und sie ist natürlich in den Familiengeschichten mit drin. Und ich finde, es muss auch ein Teil dieser Aufarbeitung sein, auf die eigene Familiengeschichte zu schauen."
Diese Auseinandersetzung wird lange dauern und schmerzhaft sein. Mit Solidaritätsnoten der Kirchenleitungen – so richtig und wichtig diese auch sind – ist es nicht getan.
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 12. November 2023 | 09:15 Uhr