Militärjunta Spektakuläre Flucht nach Putsch: Ein geheimer Stasi-Coup in Chile

11. September 2023, 05:00 Uhr

Als das Militär vor 50 Jahren gegen den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende putschte, begann die Junta eine erbarmungslose Jagd. Viele Menschen versuchten sich in ausländische Botschaften zu retten – und die DDR rettete den wichtigsten Oppositionellen mit einer abenteuerlichen Fluchtaktion.

Das Militär unter General Augusto Pinochet putschte am 11. September 1973 gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Salvador Allende. Als der sich weigerte, zurückzutreten, ließ Pinochet den Präsidentenpalast La Moneda in der chilenischen Hauptstadt Santiago de Chile bombardieren.

"Wir haben gesehen, wie Flugzeuge über Santiago fliegen. Dort wurde bombardiert und dann haben wir auch gehört, dass die Moneda bombardiert wurde", erklärt Günter Küpper, der damals in Chile als Diplomat für die DDR tätig war und den Putsch miterlebte. Dann kam die Nachricht, dass sich Allende erschossen hat. Küpper sah, wie Oppositionelle, Gewerkschafter, Sozialisten und Kommunisten erbarmungslos gejagt wurden. 28.000 Menschen ließ Diktator Pinochet verhaften. Viele wurden gefoltert und ermordet.

Es wurde alles vernichtet, was irgendwie gegen die Junta spricht.

Günter Küpper Ex-DDR-Diplomat in Chile

"Drei Tage hat die Junta gewütet. Da spielten Menschenleben keine Rolle. Es wurde alles vernichtet, was irgendwie gegen die Junta spricht", sagt Küpper. Überall habe er Tote liegen sehen. "Und was das Schlimme war, dass mein chilenischer Kraftfahrer, erschossen wurde. Das war für mich sehr, sehr tragisch."

Allende wollte sozialistische Reform in Chile

Küpper war 1972 mit seiner Frau nach Chile gekommen. Er war in der DDR-Botschaft für alle Verwaltungsangelegenheiten zuständig. Zwei Jahre zuvor hatte der Sozialist Salvador Allende mit Unterstützung des Linksbündnisses "Unidad Popular" die Präsidentenwahlen gewonnen. Allende wollte eine sozialistische Reform. Löhne wurden erhöht, Großgrundbesitzer enteignet. Der charismatische Allende war ein Hoffnungsträger für die einfachen Leute.

Als er die Kupferminen verstaatlichen ließ, die sich vor allem im Besitz US-amerikanischer Unternehmen befanden, reagierten die USA mit einem Finanzboykott. Mitten im Kalten Krieg wollten sie neben Kuba kein weiteres sozialistisches Experiment in Nord- oder Südamerika. Chile stürzte in eine Wirtschaftskrise. Lebensmittel wurden knapp und Streiks legten das Land lahm. Finanziert wurden die auch vom amerikanischen Geheimdienst CIA.

"Das Gefühl war eigentlich, ein Dreivierteljahr vor dem Putsch bereits da, weil immer wieder Leute versucht haben, einen Putsch anzuzetteln", sagt Küpper. "Dann wurde jemand erschossen und alles Geplänkel, das immer wieder darauf hindeutete, dass ein Putsch kommen kann."

Staatsfeind Nummer Eins sollte aus Chile raus

Wer konnte, versuchte sich in ausländische Botschaften zu retten. Auch die DDR-Vertretung nahm Flüchtlinge auf. Sie wurden später in die DDR ausgeflogen. Carlos Altamirano war diese Möglichkeit versperrt. Der Generalsekretär der Sozialistischen Partei war der Staatsfeind Nummer Eins. Auf ihn war ein Kopfgeld ausgesetzt. Tagelang versteckte er sich in Santiago de Chile. Ständige Razzien der Militärs bedrohten sein Leben. Trotzdem gelang ihm die Flucht in ein Gebäude der früheren DDR-Botschaft. Nun musste er ins Ausland. Nur wie?

Im Ministerium für Staatssicherheit in Ostberlin entwarf die Hauptabteilung Aufklärung unter Markus Wolf einen Fluchtplan. Das Problem: Man hatte keine Leute in Chile, alle waren nach dem Putsch abgezogen worden. Rudolf Herz, damals Major der Staatssicherheit mit Spanischkenntnissen, wurde mit einer falschen Legende ausgestattet und flog nach Chile.

"Ich bin dort runter geschickt worden mit dem einzigen Auftrag: Altamirano raus und diese Operation zu fahren", sagt der ehemalige Stasi-Major Herz. Eine Aktion, die in Berlin geplant worden ist. "Mit dem Auto, mit den Leuten, die dort sind, einstimmen, aussuchen und dann die Kutsche fahren."

DDR-Major fuhr Auto mit verstecktem Hohlraum

Es war ein extra präpariertes Auto: Der Wagen war der Nachbau eines Fahrzeugs, das die Stasi an der innerdeutschen Grenze beschlagnahmt hatte. Flüchtlinge sollten in diesem Wagen aus der DDR geschmuggelt werden – versteckt in einem Hohlraum hinter den Rücksitzen.

Ein solcher Wagen diente als Vorbild für das Fluchtfahrzeug für Altamirano. "Das Auto war nicht von uns ausgesucht, sondern wir mussten das nehmen, was die hatten. Dann haben die in einer Spezialwerkstatt hier die Teile nachgebaut. Da sind die Techniker nach Argentinien geflogen", so Herz.

Dort wurde der Fluchtwagen vorbereitet und nach Santiago de Chile gebracht. Drei Autos fuhren am 5. November 1973 los. Der präparierte Wagen mit dem versteckten Carlos Altamirano und zwei Begleitfahrzeuge. Es war eine höchst heikle Aktion. Um ein Haar ging es tatsächlich schief. Der Fahrer des Fluchtfahrzeugs wurde an der Grenze zurückgewiesen. Über Nacht hatten die Militärs eine neue Regelung eingeführt: Auch für den Pkw musste jetzt ein Passierschein vorgelegt werden. Also Rückfahrt in die nächste Kleinstadt Los Andos, den entsprechenden Stempel besorgen.

Mein lieber Mann, wenn das in die Hose gegangen wäre.

Rudolf Herz Ehemaliger Stasi-Major

Carlos Altamirano musste dann auf dem Weg in die Kleinstadt in einer unbelebten Gegend aus dem Auto klettern und sich hinter einem Felsen verbergen. In der Militärkaserne Los Andos gab sich der Fahrer als Deutscher zu erkennen, was bei den Soldaten mächtig Eindruck machte. Er bekam den erforderlichen Passierschein und ein zweites Mal ging es zur Grenze. Altamirano wurde wieder eingeladen, kauerte sich erneut hinter den Rücksitz und kurz vor der Schließung des Grenzübergangs passierten alle mit dem Fluchtfahrzeug die Grenze nach Argentinien. Altamirano war außer Gefahr. In Freiheit.

"Also es gibt Momente, wo man hinterher weiß, dass man hätte Angst haben müssen", sagt der ehemalige Major Herz. "Die Risiken erkennt man meist erst hinterher. Und dann kann es passieren, dass man mal ein leichtes Zittern kriegt. Mein lieber Mann, wenn das in die Hose gegangen wäre."

Nur wenige Gegner konnten der Diktatur entkommen

Die Operation blieb jahrzehntelang geheim. Auch Altamirano sprach nie über Details. Selbst nicht, als er ein halbes Jahr später in Paris danach gefragt wurde. "Zweifellos ist die Frage, die Sie mir stellen, eine Frage, an deren Beantwortung die faschistische Militärjunta sehr interessiert sein dürfte", erklärte Altamirano im Februar 1974. "Denn die möchte wissen, wie ich es schaffte, dem faschistischen Terror während drei Monaten und einigen Tagen mehr zu entgehen." Doch genau deswegen werde er diese Frage nicht beantworten.

Nach dieser spektakulären Flucht war Carlos Altamirano der prominenteste der rund 2.000 Exilchilenen in der DDR. Allerdings konnten nur wenige Gegner der Diktatur entkommen. Viele wurden entführt, gefoltert und später grausam ermordet. Ihre entstellten Leichen wurden achtlos in den Fluss geworfen. Auch 50 Jahre später sind die Verbrechen der chilenischen Militärdiktatur nicht restlos aufgeklärt.

Dieses Thema im Programm: Das Erste | FAKT | 05. September 2023 | 21:45 Uhr

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