"Nicht Russland ist die Gefahr, sondern der Terrorismus"
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Interview mit dem Journalisten Fjodor Lukjanow
25. Juli 2016, 15:07 Uhr
"Der Westen wähnte sich als Sieger des Kalten Krieges und glaubte, dass auch Russland seine Werte übernehmen wird", konstatiert der Außenpolitik-Experte. Doch die russische Gesellschaft habe sich für ihren eigenen Weg entschieden – auch wenn sie immer noch auf der Suche nach eigenen, identitätsstiftenden Werten sei. Das führe zu grundlegenden Missverständnissen – auch bei der Bewertung der Osterweiterung der NATO und der Ukraine-Krise.
Wie bewerten Sie die derzeitigen Spannungen zwischen Russland und dem Westen? Leben wir in einem neuen Kalten Krieg?
Nein. Es gibt keinen neuen Kalten Krieg. Der Kalte Krieg war in meinen Augen ein ganz bestimmter Geschichtsabschnitt in den internationalen Beziehungen. Organisiert nach ziemlich ekelhaften, aber sehr klaren Regeln der bipolaren Konfrontation. So etwas hat es nie zuvor gegeben und wird es aller Voraussicht nach auch nie wieder geben, zumindest strukturell. Wenn wir von der Atmosphäre sprechen, von der politischen Stimmung, von der Psychologie, dann können wir vielleicht sagen, dass der Geist des Kalten Krieges wieder erwacht ist. Das ist aber eine sehr vereinfachende Erklärung. Womit wir es momentan zu tun haben, hat einen anderen Charakter und andere Wurzeln. Auch deshalb, und vor allem deshalb, weil wir derzeit keine ideologischen Differenzen haben, wie es vor 40 oder 30 Jahren der Fall war.
Ist denn die jetzige Situation gefährlicher als der historische Kalte Krieg?
Sie ist in einer ganz bestimmten Hinsicht gefährlicher: Am Ende des Kalten Krieges hatten wir sehr klare Regeln der Konfrontation zwischen dem Warschauer Pakt und der NATO. Jeder wusste, dass er einen bestimmten Punkt nicht ohne ein enormes Risiko überschreiten darf. Insbesondere die zweite Hälfte des Kalten Krieges - nach der Kubakrise 1962 - war zwar eine sehr harte Konfrontation, aber mit einem sehr klaren Verständnis für die Schranken dieser Konfrontation. Diese klaren Regeln gibt es heute nicht mehr, weil wir nach dem Ende des Kalten Krieges insbesondere im Westen eine lange Zeit voller Euphorie hatten, mit der falschen Zuversicht, dass diese Regeln nicht mehr nötig seien. Deshalb haben wir derzeit diese Zwischenfälle mit Flugzeugen im neutralen Luftraum oder mit Kriegsschiffen, wenn beide Seiten versuchen zu zeigen, wie fit und einsatzbereit sie im Alarmfall wären. So etwas hat es zwar auch zu Zeiten des Kalten Krieges gegeben, aber damals gab es klare Regeln der Konfrontation, wie ich sagte. Jetzt haben wir sie nicht mehr, und mein Tipp wäre, dass wir sie wiederherstellen müssen.
Die Werte in Russland und dem Westen unterscheiden sich erheblich. In der Politikwissenschaft spricht man vom "Kampf der Kulturen". Hilft dieses Konzept, um die Situation zu verstehen?
Bis zu einem gewissen Grad können wir von einem Wertekonflikt sprechen, aber in einer sehr speziellen Art und Weise. Auf russischer Seite sind wir immer noch dabei, neue Werte zu finden. Der Zusammenbruch der Sowjetunion hat die alte Identität zerstört. Egal ob sie gut oder schlecht war, aber es war eine Art von Identität. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat das russische Volk keinen stabilen Ersatz dafür entwickelt.
Auf westlicher Seite haben wir einen völlig anderen Prozess, weil es am Ende des Kalten Krieges ein euphorisches Gefühl gab, gewonnen zu haben. Und weil die westlichen Werte gewonnen hätten, so glaubte man, seien sie die besten überhaupt, die einzig wahren, die universalen Werte. Viele Menschen dachten, diese westlichen Werte würden sich dann über die ganze Welt ausbreiten. Es ist heute nicht der Fall, weil es eine ernsthafte Wertekrise in der westlichen Welt gibt. Und das bedeutet, dass die Wertesysteme sich auf beiden Seiten in einer ernsthaften Transformation befinden. Wir haben es also nicht mit einem Kampf der Kulturen, sondern einem Kampf der Transformationen zu tun. Und wenn ich mich in der Europäischen Union umsehe, dann weiß ich nicht, welche Werte dort in Zukunft Gültigkeit haben werden.
Es herrscht heute eine Atmosphäre wie in Zeiten des Kalten Krieges. Ist der "alte Feind" zurück?
Auf beiden Seiten gibt es Menschen, die das Konzept der "alten Feinde" und Feindschaft gerne wieder etablieren würden. Sie glauben, dass ein Leben mit einem klaren Feindbild vor Augen einfacher ist. Der Kalte Krieg und die Sowjetunion haben die europäische Integration vorangetrieben. Manche Europäer sagen, dass Stalin einer der Väter der Europäischen Integration war. Aber all diejenigen, die denken, dass die alte Feindschaft Probleme lösen kann, liegen falsch. Egal ob in Russland, der EU oder in den USA. Die eigentliche Gefahr liegt im Terrorismus, und der hat weder etwas mit Putin noch mit russischen Werten zu tun. Die NATO also als Problemlöser zu sehen, funktioniert nicht.
Russische Medien vermitteln den Eindruck, einen Medienkrieg gegen den Westen zu führen. Wie erklären Sie sich das?
In Russland ist es genau umgekehrt: Dort denken viele, dass der Westen Russland einen Medienkrieg erklärt hat. Dieselben Ereignisse werden unterschiedlich erklärt. Zum Teil hat das mit Propaganda zu tun. Der Propagandadruck in Russland ist groß. Es gibt aber auch im Westen Propaganda. Wir vereinfachen, weil die Realität zu komplex ist. Nehmen wir zum Beispiel den Ukraine-Konflikt: Washington sieht ihn anders als Moskau und das liegt an einem unterschiedlichen historischen, emotionalen, politischen und kulturellen Hintergrund. Es ist gut, unterschiedliche Ansichten zu haben. Es ist aber schlecht, keine Wege zu finden, Vorurteile und Emotionen beiseite zu legen und eine sinnvolle Lösung zu finden.
Inwieweit wird Russland weiter Separatisten in der Ostukraine unterstützen?
Diejenigen, die man im Westen als Separatisten bezeichnet, werden in Russland als Menschen gesehen, die versuchen, ihre Identität gegen aggressiven Druck zu bewahren, der aus nationalistischen Kreisen in der Ukraine kommt. Davon abgesehen, sind viele Menschen über die Folgen des Krieges sehr unglücklich und unzufrieden. Aber weder politisch noch moralisch wird Russland diejenigen abstoßen, die es bislang unterstützt hat.
Fjodor Lukjanow ist Chefredakteur des Journals "Russia in Global Affairs". Er gehört in Russland zu den führenden Experten für Außenpolitik.
Die NATO-Russland-Grundakte wurde 1997 als völkerrechtliche Erklärung unterzeichnet. Welche Berechtigung hat die Grundakte heute noch?
Stimmen aus Russland meinen, dass die Grundakte absolut falsch war und dass sie im Endeffekt all die Prozesse auslöste, die zur Ukraine-Krise führten. Es gibt viele, die bezweifeln, dass wir dieses Papier überhaupt noch benötigen. So wie ich die NATO-Logik seit der Ukraine-Krise verstehe, gibt es Versuche, die Grundakte kreativ zu interpretieren. Das Papier verbietet dauerhafte Truppenstationierung in den neuen NATO-Ländern, also hat man sich ein Rotationssystem einfallen lassen, welches den Vertrag nicht bricht, aber praktisch einer permanenten Stationierung gleichkommt. Und ich denke, das wird für das Handeln beider Seiten kennzeichnend sein - die Verpflichtungen formal einzuhalten, gleichzeitig aber jede Möglichkeit nutzen, diese zu umgehen.
Befürchten Sie ein neues Wettrüsten in Europa?
Ein Wettrüsten scheint nicht sehr wahrscheinlich, weil wir die Aussagen beider Seiten und die Investitionen, die zurzeit in dieser Branche getätigt werden, nicht mit denen vom Ende des Kalten Krieges vergleichen können. Es wird eher eine hybride Militarisierung geben. Viele Anstrengungen werden darein fließen, ein Gefühl der Alarmbereitschaft zu verbreiten, während die tatsächlichen Rüstungsausgaben immer noch recht bescheiden bleiben werden.
Über dieses Thema berichtet MDR AKTUELL auch im Radio | 14.09.2017 | 08:09 Uhr