Polizeibrutalität vor der Wahl Polen: Polizei im Einsatz für die PiS?
Hauptinhalt
15. Juni 2020, 18:34 Uhr
Das Stichwort Polizeigewalt ist derzeit in aller Munde. Auch bei unseren polnischen Nachbarn – dort allerdings aus gänzlich anderen Gründen als in den USA. Die Opposition wirft der Polizei vor, dass sie sich vor der anstehenden Präsidentschaftswahl zum Handlanger der Regierungspartei PiS macht, indem sie Proteste brutal unterdrückt und Regierungskritiker einschüchtert.
Den 8. Juni 2020 wird eine Warschauer Aktivistin, die nach dem Vorfall anonym bleiben möchte, wohl nie vergessen: An diesem Tag wurde sie vor den Augen ihrer minderjährigen Tochter und ihrer Eltern von der Polizei in Handschellen abgeführt. Der Vorwurf: schwerer Einbruchsdiebstahl. Doch das, was sie in Wahrheit getan hat, hat mit diesem Eigentumsdelikt kaum etwas zu tun. Die Frau hatte gemeinsam mit anderen Aktivisten Werbevitrinen an Straßenbahn- und Bushaltestellen geöffnet und die dort hängenden Werbeträger gegen eigene Plakate mit politischer Botschaft ausgetauscht. Sie warfen Gesundheitsminister Lukasz Szumowski krumme Geschäfte während der Covid-Krise vor. Der Politiker soll minderwertige und überteuerte Atemschutzmasken von der Firma eines Freundes gekauft haben, ohne Ausschreibung.
Um die Aktivistin, die diese unbequeme Botschaft wenige Wochen vor der Präsidentschaftswahl verbreitete, belangen zu können, bemühte die Polizei einen Paragraphen, der nach Ansicht ihres Anwalts überhaupt nicht zutrifft, es der Polizei aber ermöglicht, ohne Weisung der Staatsanwaltschaft aktiv zu werden. Einbruchdiebstahl wird nämlich von Amts wegen verfolgt und ist mit hohen Strafen belegt. Dabei ließ die Aktivistin die entfernten alten Werbeplakate am "Tatort" liegen, so dass von einem Diebstahl kaum die Rede sein kann. Auch der Einbruchsvorwurf steht auf wackeligen Füßen, da zum Öffnen der Werbevitrinen ein handelsüblicher Dreikantschlüssel benutzt wurde. Und: Der Wert aller 15 entfernten Plakate übersteigt kaum 100 Euro.
Will die Polizei Regierungskritiker einschüchtern?
Angesichts dieser Sachlage wirft das harte Vorgehen der Polizei Fragen auf. Denn bei derartigen Bagatellfällen werden die Beschuldigten normalerweise nur zu einer Vernehmung vorgeladen und bleiben auf freiem Fuß. Hier wurde aber die Wohnung der Aktivistin ohne richterlichen Beschluss durchsucht. Anschließend wurde die Beschuldigte in Handschellen abgeführt, obwohl sie keinen Widerstand leistete, und für fast zwei Tage vorläufig festgenommen, ohne Kontakt zu ihrem Anwalt, obwohl ihr das per Gesetz zusteht. Für die Opposition ist daher klar: Die Polizei wollte mit diesem übertrieben harten Vorgehen die Aktivistin einschüchtern und andere davon abhalten, in ihre Fußstapfen zu treten.
Klagen über unangemessene Härte und Brutalität der polnischen Polizei häufen sich seit Längerem. Ende April organisierten polnische Bürger, die in Deutschland arbeiten, auf der Grenzbrücke zwischen Görlitz und Zgorzelec eine Demo für die Öffnung der Grenze – darunter ein Vater, der seinen kleinen Sohn seit einem Monat nicht gesehen hatte. Als sich die beiden durch das auf der Grenzlinie aufgestellte Sperrgitter begrüßten, eilte ein polnischer Polizist sofort zum Zaun und unterband das Treffen. Der Fall sorgte in ganz Polen für Aufsehen.
Proteste mit Tränengas auseinandergetrieben
Auch polnische Unternehmer, die für ein besseres Schutzschild für die Wirtschaft in der Corona-Krise demonstrierten, bekamen die Härte der Gesetzeshüter deutlich zu spüren. Mehrmals im Monat Mai gingen sie auf die Straße. Jedes Mal wiederholte sich das Szenario: Die Demonstranten, die friedlich blieben und sich bemühten, Sicherheitsabstände einzuhalten, wurden von Bereitschaftspolizisten eingekesselt und mit Hilfe von Tränengas und Polizeiknüppeln auseinandergetrieben – viel zu brutal ihrer Ansicht nach. Bei einer der Demos wurde sogar ein Parlamentarier festgenommen, obwohl er Immunität besitzt. Die Polizei schützte sich mit der Behauptung, er habe sich selbst in das Polizeiauto gesetzt, obwohl Videos von Augenzeugen das Gegenteil nahelegten.
Selbst bei Jugendlichen wendet die Polizei in Polen keinen Ermäßigungstarif an. Als Präsident Andrzej Duda kürzlich im Rahmen seines Wahlkampfs eine lesben- und schwulenfeindliche "Familiencharta" unterschrieb, veranstalteten Jugendliche vor seinem Amtssitz in Warschau aus Protest eine "Regenbogendisco". Die Beamten ließen sie zunächst gewähren, nach Abschluss der Kundgebung folgten sie aber ausgewählten Teilnehmern durch die Straßen, hielten sie mehrere Hundert Meter vom "Tatort" entfernt an und brummten ihnen saftige Geldbußen auf. Die Begründung: Die Aktion habe gegen derzeit geltende Covid-Beschränkungen verstoßen. Hätten die Jugendlichen nur getanzt, wäre das erlaubt gewesen, so die Beamten. Da sie beim Tanzen aber Plakate mit politischen Losungen hielten, stuften die Beamten die Aktion als nicht genehmigte Demo ein.
Polizeibrutalität in politischem Auftrag?
Selbst Journalisten und Fotoreporter, die über solche Aktionen berichten, werden immer wieder festgenommen und als Teilnehmer einer nicht genehmigten Kundgebung vor Gericht gestellt, obwohl sie ihrer Arbeit nachgingen. Wenn die Redaktionen Beschwerde einlegen, behauptet die Polizei, die Reporter hätten sich nicht als Journalisten ausgewiesen. Auch hier vermutet die Opposition ein Ziel hinter dem Vorgehen: Die Bevölkerung soll vor der anstehenden Präsidentschaftswahl am 28. Juni so wenig wie möglich über Proteste und über das brutale Vorgehen der Polizei erfahren. Die regierende PiS-Partei hat nämlich Angst, dass die Zustimmungswerte von Amtsinhaber Andrzej Duda im Laufe der Corona-Krise immer weiter sinken. Nachrichten über unzufriedene Mitbürger könnten dann den einen oder anderen Wähler beeinflussen und den Missmut vertiefen.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 20. Juni 2020 | 06:00 Uhr