Covid-19 Mogelpackung: Wie Polen ausländische Ärzte ins Land locken will
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03. Februar 2021, 17:31 Uhr
Polen leidet unter akutem Ärztemangel. Auf die Einwohnerzahl bezogen hat das Land nur halb so viele Mediziner wie Deutschland - und ist damit Schlusslicht in der ganzen EU. In der Corona-Pandemie rächt sich das. Um Abhilfe zu schaffen, will man nun Ärzte aus der Ukraine und aus Belarus holen – mit einer vereinfachten Berufsanerkennungsprozedur. Die Sache hat allerdings einen Haken.
Polens Gesundheitssystem stößt in der Pandemie an seine Grenzen. Die Notaufnahmen sind überfüllt, Krankentransporte kreisen stundenlang durch die Gegend, um ein freies Corona-Bett zu finden. Dennoch lehnte das Land deutsche Hilfe ab, die Bundespräsident Frank-Walter Steinmeiner seinem Amtskollegen Andrzej Duda angeboten hatte.
Ende November ging eine Fotoserie viral durchs Netz, die die Misere besonders augenfällig machte. Sie zeigte eine Corona-Patientin auf dem Fußboden neben dem Bett liegend. Mit einer aufgeplatzten Windel und durch Fäkalien beschmutzt, versuchte sie ebenso verzweifelt wie erfolglos wieder das Bett zu erklimmen. Die Bilder sorgten landesweit für Empörung und wurden zu einem Symbol für den Personalmangel, unter dem Polens Gesundheitssystem seit Jahren leidet.
68.000 Ärzte fehlen in Polen
Nach dem neuesten OECD-Bericht "Health at a Glance: Europe 2020" kommen in Polen nur 2,4 Ärzte auf 1.000 Einwohner. Das ist der niedrigste Wert in der EU und nur halb so hoch wie in Deutschland. Nach Schätzungen der Obersten Ärztekammer fehlen in Polen rund 68.000 Mediziner – in der Corona-Pandemie ist das besonders spürbar. Polen will deshalb Ärzte aus Nicht-EU-Ländern anwerben. Seit Anfang Januar gilt eine vereinfachte Zulassungsprozedur – denn bislang war es Ärzten mit einem ausländischen Diplom wegen der hochgeschraubten Kriterien und einer als schikanös empfundenen Zulassungsprozedur fast unmöglich, in Polen Fuß zu fassen.
Not-Approbation für Mediziner aus Nicht-EU-Ländern
Die beschleunigte Not-Approbation für Corona-Zeiten erteilt das Gesundheitsministerium. Die Bewerber müssen ein mindestens fünfjähriges Medizinstudium vorweisen. Außerdem müssen sie eine Facharztausbildung und mindestens drei Jahre Berufserfahrung mitbringen. Auf eine Sprachprüfung wird verzichtet, der Bewerber muss lediglich versichern, dass er Polnisch kann. Die Regelung gilt zunächst für fünf Jahre. Angesichts der bisherigen Praxis ist das eine Revolution.
Polen | Deutschland | |
---|---|---|
Ärzte auf 1.000 Einw. | 2,4 | 4,3 |
Intensivbetten auf 100.000 Einw. | 10,1 | 33,9 |
Zusätzliche Corona-Ausgaben pro Kopf | 80,02 EUR | 301,76 EUR |
Macht die Not-Approbation Ärzte zu "Leibeigenen"?
Allerdings ist die Neuregelung nicht unumstritten. Selbst einige der wenigen ausländischen Ärzte, denen es gelang, eine Approbation nach der strengen alten Prozedur zu ergattern, sind skeptisch. Mediziner, die jetzt eine Not-Approbation für Corona-Zeiten bekommen, erhalten nämlich nur ein eingeschränktes Berufsausübungsrecht. Sie sind an ein konkretes Krankenhaus gebunden, das für sie den Antrag stellt, und können nicht frei den Arbeitgeber wechseln. Dies sei eine Art Leibeigenschaft, empört sich Ewgenij Mozgunow, ein russischer Anästhesist, der seit 2014 in Polen praktiziert und in der Community der russischsprachigen Ärzte aktiv ist. Nach spätestens fünf Jahren erlischt die Not-Approbation, der Arzt muss dann die reguläre Zulassungsprozedur durchlaufen – die aber nur wenige schaffen – oder wieder nach Hause gehen. Die ausländischen Ärzte, die Polen in der schlimmsten Pandemiezeit aus der Patsche helfen, werden dadurch faktisch wie Saisonarbeiter behandelt und bekommen keine echte Chance, dauerhaft im Land anzukommen. Statt der neuen Regelung fordert Mozgunow daher, die reguläre Zulassungsprozedur zu überarbeiten und transparenter zu machen.
Polens Ärztekammer gegen Not-Approbation
Auch Polens Ärztekammer ist nicht begeisterte von den Notapprobationen. Allerdings aus einem anderen Grund als die ausländischen Mediziner. Nach Ansicht von Ärztekammerpräsident Andrzej Matyja verstößt die coronabedingte Not-Approbation gegen EU-Recht. "Es ist eine gefährliche Lösung. Es werden Ärzte mit fragwürdigen Qualifikationen und ohne Sprachkenntnisse ins Land geholt", sagt Matyja. Statt Nicht-EU-Ausländer zu holen, sollte die Regierung lieber polnische Medizinstudenten im fünften und sechsten Studienjahr anlernen, mit Corona-Patienten zu arbeiten, meint er.
Bisherige Zulassungsprozedur schikanös und intransparent
Die Not-Approbattion wurde eingeführt, weil die reguläre Zulassungsprozedur für Ärzte aus Nicht-EU-Staaten äußerst aufwendig und ihr Ausgang für die Betroffenen ungewiss ist. Bei genauerem Hinsehen kann man sich kaum des Eindrucks erwehren, dass sie ausländische Mediziner eher abschrecken als anlocken soll. Bei der regulären Zulassungsprozedur ist anders als bei der coronabedingten Not-Approbation eine Sprachprüfung mit edizinischer Terminologie vorgeschrieben. Danach folgt eine Fachprüfung, bei der je nach Standort 50 bis 80 Prozent der Bewerber durchfallen. Die Prüfungsinhalte bestimmt jede medizinische Fakultät nach eigenem Ermessen. Teilnehmer berichten von schikanösen Fragen; eine klare Festlegung, was abgefragt wird, existiert nicht. So wurde ein ausländischer Neurologe beispielsweise nach dem Durchmesser eines Kinderbronchoskops gefragt, was mit seinem Fachgebiet nichts zu tun hat. Viele Ärzte brauchen trotz längerer Berufserfahrung mehrere Anläufe, um diese Prüfung zu bestehen.
Doch damit ist die Sache für sie längst nicht erledigt. Die Prüfung bedeutet nur, dass ihr Hochschuldiplom aus der Heimat dem polnischen gleichgestellt ist. Danach haben sie den Status von Absolventen. Selbst als Facharzt mit mehrjähriger Praxis fängt man danach bei Null an und darf mit frischgebackenen Studienabgängern ein Praktisches Jahr durchlaufen. Anschließend folgt noch das abschließende Staatsexamen, vergleichbar dem dritten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung in Deutschland. Erst dann ist man vollwertiger Arzt – ohne Anerkennung der Facharztausbildung aus der Heimat wohlgemerkt. Die Folge: ausländische Mediziner sind in Polen eine Rarität – rund 2.500 an der Zahl, gegenüber 58.000 in Deutschland (Stand 2019).
Gesundheitsministerium hat Ukraine und Belarus im Blick
Die Not-Approbation für Corona-Zeiten soll das ein wenig ändern. Der stellvertretende Gesundheitsminister Sławomir Gadomski hofft, dass etwa 1.000 Ärzte nach Polen kommen werden, vor allem aus der Ukraine und in geringerem Maße aus Belarus. Ein Anreiz könnten die höheren Gehälter in Polen sein. Viele Ärzte in der Ukraine sind verbittert, weil die versprochenen Corona-Zulagen bei ihnen nicht angekommen sind – ohne sie liegt ein durchschnittliches Arztgehalt in der Ukraine bei umgerechnet etwa 175 Euro. Die Abwanderung von Medizinern dauert in der Ukraine seit Jahren an, die Corona-Pandemie hat sie aber weiter beschleunigt. Ähnlich ist die Lage in Belarus, wo eine Unzufriedenheit mit der Politik hinzukommt.
Im Westen gibt's mehr Gehalt, in Polen ist die Heimat aber näher
Fraglich bleibt auch, ob der finanzielle Anreiz, den polnische Krankenhäuser bieten können, ausreichend ist, um Ärzte aus der Ukraine und aus Belarus in Massen zu locken. Schließlich können sie in anderen europäischen Ländern noch deutlich mehr verdienen. Nur die größere kulturelle Nähe und sprachliche Verwandtschaft spricht für Polen – was für manche Ärzte aus den ehemaligen Sowjetrepubliken durchaus eine Rolle spielt.
Bislang profitiert das polnische Gesundheitswesen noch kaum von der Neuregelung, die noch nicht einmal zwei Wochen in Kraft ist. Das polnische Gesundheitsministerium teilte auf MDR-Nachfrage mit, dass bis zum Inkrafttreten der neuen Regelung Not-Approbationsanträge für 37 Ärzte gestellt wurden. Wie viele Ärzte langfristig kommen werden, könne man derzeit noch nicht abschätzen.
Nur eines ist jetzt schon sicher – diverse, nicht immer vertrauenswürdige Jobvermittler haben ein gutes Geschäft gewittert und Polens Nachbarländer bereits mit ihren Jobangeboten überzogen. Bei einer erfolgreichen Vermittlung winken ihnen stattliche Provisionen.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 06. Januar 2021 | 22:53 Uhr