Mein Ostblogger-Jahr Jahresrückblick: Russische Oppositionelle gewinnen vor Gericht
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16. Dezember 2019, 05:00 Uhr
Im ausgehenden Jahr sorgten Regional- und Kommunalwahlen für die größten Proteste in Russland seit langer Zeit. Vor allem Nachwuchspolitiker wollen sich die Schikanen und Tricks der Machthaber nicht länger gefallen lassen. Frischer Wind in Russland und für unseren Ostblogger Maxim Kireev das wichtigste Ereignis 2019.
Wahlen sind für mich nach fast zehn Jahren als Journalist in Russland eigentlich keine spannende Angelegenheit mehr. Nur ganz selten haben sie in den vergangenen 20 Jahren etwas an den Machtstrukturen in Russland verändert. Dennoch waren es die Regionalwahlen in Moskau, Sankt-Petersburg und vielen anderen Städten, die mir als wichtigstes Ereignis des auslaufenden Jahres im Gedächtnis bleiben werden. Zwar waren sie, wie viele Wahlen vorher, vor allem entmutigend. Das Ausmaß von Schikanen und Tricks, die von den Machthabern angewandt wurden, ließ keinen Zweifel daran, wer daraus als Sieger hervorgeht. Auch haben diese Wahlen kaum Einfluss auf das aktuelle politische Geschehen im Land. Doch sie haben bei mir nicht das gewohnte Gefühl der Ausweglosigkeit hinterlassen. Die unzähligen Abstimmungen in Bezirksräten und Stadtparlamenten haben gezeigt, dass Hunderte, ja Tausende meist junge Russen bereit sind, gegen staatliche Bevormundung zu kämpfen - auf der Straße und auch vor Gericht. Und ihr Kampf ist nicht völlig aussichtslos.
Im späten Sommer gingen in Moskau Zehntausende Russen auf die Straße, weil fast alle oppositionellen Kandidaten von der Wahl zum Stadtparlament ausgeschlossen worden waren. Die Moskauer Parlamentswahl bekam weltweit in den Medien viel Aufmerksamkeit. Doch erst bei der Kommunalwahl in Sankt-Petersburg, bei der Tausende Bezirksvertreter gewählt werden sollten, zeigte sich, welche Tricks die Machthaber im Werkzeugkasten hatten.
Kleine Sensation vor Gericht
Dutzende Oppositionelle klagten in Interviews, dass sie schon bei der Registrierung als Kandidaten physisch daran gehindert wurden, ihre Papiere bei der zuständigen Wahlbehörde einzureichen. Lokale Politiker der Partei Einiges Russland hatten dafür kräftige Jungs in Sportklamotten engagiert, die vor der Behörde eine Schlange simulierten und keinen reinließen. Wer es dennoch hinein geschafft hatte, wurde damit konfrontiert, dass die Wahlkommission eingereichte Dokumente plötzlich verlor oder absichtlich Fehler beim Registrierungsprozess machte, damit dieser später für ungültig erklärt werden konnte.
Umso größer war auch bei mir die Überraschung, als der 26-jährige Pawel Tschuprunow gegen die Wahlkommission seines Bezirks klagte, die ihn nicht zur Wahl zulassen wollte. Der Fall landete bei Natalia Petrowa. Die Richterin hatte die Tricks der Verantwortlichen schnell durchschaut und schreckte nicht davor zurück, Tschuprunow Recht zu geben. In ihrem Urteil verpflichtete sie die Wahlkommission, den 26-jährigen Oppositionellen als Kandidaten zu registrieren. Die Zuschauer im Saal applaudierten. Es war ein Sieg, der auch für mich nach vielen Jahren der Russland-Berichterstattung unerwartet kam. Schließlich gelten Gerichte hierzulande als Erfüllungsgehilfen der Politik.
Oppositionelle vor Gericht - das ist kein ungewöhnliches Bild in Russland. Doch noch nie hatte ich einen Oppositionellen vor Gericht gegen einen Vertreter des Staatsapparats siegen sehen. Es fühlte sich an wie eine Sensation im Kleinformat. Doch wie sich später herausstellte, ignorierte die Wahlkommission Petrowas Richterspruch. Ganz so, als hätte es ihn nicht gegeben. Selbst die Gerichtsvollzieher, die Tschuprunow später einschaltete, waren machtlos. Sie hatten zwar alle nötigen Papiere ausgestellt und die Kommission unter Strafandrohung verpflichtet, das Urteil umzusetzen. Auf dem Wahlzettel stand Pawels Name am Ende trotzdem nicht.
Machtlos gegen Politik-Filz
Der Grund für diese Unterlassung wird klar, wenn man sich die Verflechtung der Wahlbehörden mit der Regierungspartei anschaut. So arbeitet Michail Dobrochotow, der Chef der Wahlkommission, die Pawel Tschuprunow mit allen Mitteln von der Wahl ausschließen wollte, gleichzeitig als Assistent bei Wjatscheslaw Makarow. Makarow ist nicht nur der Vorsitzende der Regierungspartei Einiges Russland in Sankt-Petersburg, sondern auch Vorsitzender des Stadtparlaments. Nach der Wahl, die Einiges Russland in Pawels Bezirk später in Abwesenheit von Konkurrenz für sich entschied, wurde Dobrochotow, offenbar als Belohnung für seine Wahlhilfe, zum Chef der Bezirksverwaltung ernannt.
Auch ein solcher Vorgang ist an sich nicht ungewöhnlich für Russland. Doch dieser konkrete Fall - und das macht ihn für mich so besonders - ist mit Papieren und Dokumenten, mit Videoaufnahmen und Gerichtsentscheidungen bestens belegt. Selten hatte es einen klareren Fall von Betrug seitens der Behörden gegeben. Dies bei Recherchen aus nächster Nähe zu beobachten, ist fast atemberaubend.
Erstes Wahlergebnis ungültig
In einem Interview erklärte der 26-jährige Tschuprunow, dass er in die Lokalpolitik wollte, um seine Stadt und sein Viertel besser zu machen. Er spiele auch nicht mit dem Gedanken, irgendwann seine Heimat zu verlassen. Stattdessen machte der Oppositionelle dort weiter, wo andere längst aufgegeben haben - und scheiterte trotzdem. Seine Geschichte könnte also ein Beispiel dafür sein, dass es keinen Sinn macht, sich in Russland politisch zu engagieren.
Doch diese Geschichte zeigt vor allem, dass junge Russen, die nicht mehr in der Sowjetunion geboren sind, sich nicht so leicht einschüchtern lassen. Nicht nur, weil Einiges Russland bei den Bezirkswahlen in Sankt-Petersburg diesmal trotz Betrugs und Schikanen nur 959 von 1552 Sitzen in den mehr als 100 Bezirksräten holte. Das sind immerhin 228 Sitze weniger als noch vor vier Jahren. Viel wichtiger ist, dass Kandidaten wie Pawel Tschuprunow sich nicht mit der Niederlage abfinden, sondern vor Gerichten weiter für ihr Recht kämpfen.
Im November hatte ein Gericht bereits die Wahl in einem Bezirk für ungültig erklärt, weil dort bei der Auszählung Fehler zum Nachteil der Opposition festgestellt worden waren. Auch Tschuprunows Klage gegen die Wahlkommission wird Ende Dezember vor einem Petersburger Gericht verhandelt. Er will Neuwahlen erwirken, weil die Wahlkommission ihn trotz gültigem Urteil von der Wahl im September ausgeschlossen hatte. Als Richterin wurde wieder Natalia Petrowa eingesetzt. Sie hatte damals mit ihrer Entscheidung zu Tschuprunows Kandidatur überhaupt erst die Hoffnung geweckt, dass es wenigstens in einem Bezirk doch noch eine faire Wahl geben würde. Ich bin gespannt, wie das Urteil dieses Mal ausfällt.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL TV | 08. September 2019 | 19:30 Uhr