Ostblogger Ukraine: "Meine Welt ist zusammengebrochen"
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31. Dezember 2022, 05:00 Uhr
Unser ukrainischer Kollege Denis Trubetskoy blickt auf das Jahr 2022 zurück. Ein Treffen in Berlin. Protokoll: Thyra Veyder-Malberg
Denis Trubetskoy sitzt kurz vor Weihnachten in einem Kaffeehaus in Berlin und schaut immer wieder auf sein Handy. Seine ukrainische Luftalarm-App zeigt an: Drohnen-Angriff auf den Stadtteil von Kiew, in dem er lebt. "Es ist leichter zu ertragen, wenn man vor Ort ist", sagt der 29-Jährige. "Dann kann man einschätzen, wie schlimm die Lage wirklich ist. Hier mache ich mir nur Sorgen." Es ist die Unsicherheit, die besonders zermürbend ist. Wenn man die Fakten kennt, kann man mit ihnen umgehen und etwas tun – selbst wenn die Lage schlecht ist. Unwissenheit dagegen macht ohnmächtig.
Seit 2016 berichtet Trubetskoy für den MDR und andere deutsche Medien aus seinem Heimatland Ukraine. Doch in den Tagen nach dem 24. Februar, als er vollkommen verängstigt in der Kiewer U-Bahn saß, über seinem Kopf russische Raketen einschlugen, und gleichzeitig sein Handy nicht still stand, weil zahlreiche deutsche Redaktionen seine Einschätzung der Lage hören wollten, hat er kurz daran gezweifelt, ob er weiterhin als Journalist arbeiten will und kann. "Meine Welt ist zusammengebrochen. Da habe ich erstmal Abstand gebraucht." Diesen Abstand fand er in kleinen einem Dorf im Westen der Ukraine, wohin er nach den ersten Tagen des Überfalls geflohen ist. Rund zwei Monate hat es gedauert, bis er wieder in der Lage war, normal journalistisch zu arbeiten, "und meine Gesprächspartner mit Fragen zu nerven, wie es vorher der Fall war".
Inzwischen lebt Trubetskoy wieder in Kiew und erklärt den Menschen im deutschsprachigen Raum den Krieg in seiner Heimat – und die Auswirkungen auf die Menschen, die dort leben. Dabei lässt sich die Arbeit nicht vollständig von der persönlichen Situation trennen: "Ich möchte weiterhin einen Journalismus betreiben, der auf Fakten basiert und der die Realität keinesfalls ignoriert. Andererseits ist es mir wichtig, ehrlich zu meinen Lesern und Zuhörern zu sein. Ich glaube, es wäre nicht glaubwürdig, wenn ich so tun würde, als wäre ich superobjektiv, als wäre ich nicht daran interessiert, dass die Ukraine diesen Angriff erfolgreich abwehrt. Ich bin nicht sicher, ob ich diese Balance schon gefunden habe, aber ich habe es versucht und werde es auch weiterhin versuchen." Irgendwann während unseres Gespräches summt sein Telefon wieder. Ein flüchtiger Blick aufs Display, dann huscht ein Lächeln über sein Gesicht. Ein grüner Punkt ziert die App. Entwarnung in Kiew.
Eigentlich dürfen wehrfähige Männer wie er nicht ausreisen. Doch der Journalist hat eine Sondergenehmigung des Kulturministers bekommen, damit er auf einigen Veranstaltungen in Deutschland und Polen den Menschen hier erzählt, was der russische Angriffskrieg mit seiner Heimat macht. Er tut das routiniert und geduldig: "Man hat manchmal das Gefühl, man muss eigentlich alles wieder von vorne erklären", seufzt er.
Was also haben die Deutschen immer noch nicht verstanden, wenn es um die Ukraine geht? "Die Menschen hier in Deutschland verstehen nicht, wie demokratisch die ukrainische Gesellschaft ist. Die ukrainische Regierung kann ein Vorhaben nicht einfach durchsetzen, wenn es in der Mehrheit der Bevölkerung einen starken Widerstand dagegen gibt", sagt Trubetskoy. Sicherlich könne man darüber sprechen, ob die eine oder andere Entscheidung Wolodymyr Selenskyjs oder seines Amtsvorgängers Petro Poroschenko autoritäre Züge zeigen, aber das Gerede von einem autoritären Staat sei schlicht Unsinn.
Dafür spreche auch, dass er als Journalist relativ frei arbeiten könne: "Es gibt Aspekte, die nicht oder für einen gewissen Zeitraum nicht berichtet werden dürfen", sagt er. "Man darf die Bewegungen der ukrainischen Streitkräfte nicht filmen. Man darf eine Weile lang nicht zeigen, wo russische Raketen eingeschlagen haben, damit der Gegner das Feuer nicht korrigieren kann." Aber darüber hinaus sei eine einigermaßen freie Berichterstattung möglich. "Ich bin froh, dass die Ukraine hier einer modernen PR-Linie folgt und nicht dem Beispiel Russlands gefolgt ist, das auf klassische Militärpropaganda setzt." Das Präsidentenbüro sagt er, funktioniere wie eine moderne PR-Agentur. Es gehe darum, das Narrativ zu setzen und den eigenen Standpunkt geschickt in der Welt zu vertreten, nicht darum, andere Sichtweisen mit Gewalt zu unterdrücken, wie das in Russland der Fall ist.
In Berlin ist es an diesem Tag eher ein Fachpublikum, vor dem er im Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien spricht: Vor allem Wissenschaftlerinnen und Journalistinnen sind gekommen, ein entspanntes Gespräch mit interessierten Menschen. Trubetskoy freut sich, hier zu sein, in seiner Lieblingsstadt außer Kiew: "Berlin hat sich überhaupt nicht verändert. Überall Baustellen, die Kartenzahlung im Restaurant funktioniert auch nicht immer und man sieht Plakate von verstrahlten linken Gruppen, deren Hauptfeind immer noch die NATO ist", sagt er kopfschüttelnd und lacht.
Im Vorfeld seiner Reise hat er auf seinen Social-Media Accounts all jene, die Verhandlungen mit Russland fordern und die Ukraine dazu drängen, mit der Macht, die sie vernichten will, den Kompromiss zu suchen, eingeladen, sich mit ihm auf einen Kaffee zu treffen. Gemeldet hat sich keiner. So hat er mehr Zeit, das weihnachtlich erleuchtete Berlin zu genießen, bevor er wieder in seine von Bombardements und Energieausfällen gebeutelte Heimat zurückfährt. Silvester wird er in Kiew mit Freunden und der einen oder anderen Flasche Cognac feiern, das lässt er sich nicht nehmen. Denis Trubetskoy hat sich auf einen langen Krieg eingestellt.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | 30. Dezember 2022 | 19:30 Uhr