Mein Ostblogger-Jahr Proteste in Serbien: Das antidemokratische Déjà-vu

18. Dezember 2019, 05:00 Uhr

In Serbien wurde das ganze Jahr für Rechtsstaatlichkeit und gegen den Machtmissbrauch des Präsidenten demonstriert. Dass das nötig ist, ruft bei unserem Ostblogger in Belgrad ein peinliches Déjà-vu hervor.

Fotomontage Mann vor Fahne
Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

In seinem sechsten Lebensjahrzehnt hat man eigentlich keine Lust mehr, bei Hitze, Frost oder Regen jeden Samstag an einem Protestmarsch teilzunehmen. Man ist müde, der Rücken tut weh, die Knie sind auch nicht im besten Zustand. Und trotzdem gingen meine Freunde, Familie und ich dieses Jahr Woche für Woche, Monat für Monat auf die Straße, um zu demonstrieren: gegen unseren Präsidenten, einen serbischen Autokraten und seine Helfer, eine kriminelle Clique von Hooligans - primitive, ungebildete, aggressive, schamlose, und notorische Lügner, die den Staat entführt haben. Ich meine das buchstäblich.

Kampf gegen "blutige Hemden"

Die Bürgerproteste, die ich beschreibe und an denen ich selbst teilgenommen habe, haben am 30. November 2018 begonnen und dauern immer noch an. Damals waren Staatspräsident Aleksandar Vučić und seine Serbische Fortschrittspartei (SNS) schon sechs Jahre an der Macht. Vučić hatte in dieser Zeit stückchenweise die ganze Staatsmacht an sich gerissen: das Parlament in ein Puppentheater verwandelt, die Ministerpräsidentin und die Minister zu seinen Marionetten gemacht, sowie den Großteil der Medien gleichgeschaltet und in eine Waffe gegen Andersdenkende verwandelt.

Die Opposition war in die Knie gezwungen und wehrlos. Die nach über einem Vierteljahrhundert von Krisen und Kriegen geschwächte Zivilgesellschaft nahm das alles fast kampflos hin, verfiel in eine tiefe Apathie und zog sich vor den neuen skrupellosen Machthabern in sich selbst zurück.

Doch dann geschah plötzlich etwas, das die Apathie durchbrach. Der Oppositionspolitiker Borko Stefanović wurde krankenhausreif verprügelt, nur weil er das Regime kritisiert hatte. Ein Foto von ihm mit verwundetem Kopf und blutverschmiertem Hemd machte in sozialen Medien die Runde. Unter dem Slogan "Stoppt die blutigen Hemden" wurde spontan eine Demo organisiert. Bald gingen zehntausende Menschen in über einhundert serbischen Städten auf die Straßen, um "gegen die Gewalt des Regimes" zu protestieren.

Bürgerliches Pflichtgefühl

Natürlich schloss auch ich mich den Protesten an, obwohl ich nicht viel von ihnen erwartete. Ich empfand es einfach als meine Bürgerpflicht. Ebenso wie ich es als meine Pflicht empfand, in den 1990er-Jahren gegen die Balkankriege und für Demokratie zu demonstrieren. Nur ist es diesmal viel schwieriger und mühsamer.

Denn fast zwanzig Jahre nach der sogenannten "demokratischen Wende" in Serbien ist die Demokratie in Serbien wieder zu einem Schauspiel für die Massen degradiert worden. Zwar ist das Parlament nicht aufgelöst, doch der Präsident und die Spitze seiner Partei entscheiden über alles, was im Land geschieht. Zwar gibt es auch noch einige kritische Medien, doch sie gehen in der Flut der gleichgeschalteten unter.

Irrenhaus mit EU-Ambitionen

Nach fast einem Vierteljahrhundert muss ich wieder für die gleichen demokratischen Grundwerte demonstrieren: Rede- und Meinungsfreiheit, freie Medien und faire Wahlen; gegen Machtmissbrauch, Korruption, Selbstherrschaft und Gewalt. Dass meine 14-jährigen Zwillingstöchter nun mit mir demonstrieren müssen, empfinde ich als persönliches Versagen.

Von außen betrachtet ist Serbien ein EU-Beitrittskandidat mit demokratischen Kinderkrankheiten. Von innen betrachtet ist Serbien ein Irrenhaus geworden, in dem zur Gewaltanwendung neigende Hochstapler regieren, die alle Instrumente der Staatsgewalt kontrollieren. Ständig sind hohe Amtsträger in Skandale und Affären verwickelt, ohne irgendwelche juristischen oder politischen Folgen zu befürchten.

Wohin steuert Serbien?

Die mittlerweile abgeflauten Proteste haben immerhin dazu geführt, dass die Opposition das Parlament boykottiert, dass ein Teil von ihr die Parlamentswahlen im Frühjahr ebenso boykottieren will. Auch dass Brüssel, Washington und Berlin nicht länger beide Augen vor den Übergriffen des serbischen Staates auf seine Bürger zudrücken können, ist ein Erfolg des Protests.

Währenddessen stelle ich mir aber wieder eine Frage, die ich nach einem Vierteljahrhundert nicht erneut stellen wollte: Kann das alles noch friedlich ausgehen?

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 13. April 2019 | 21:45 Uhr

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