Das Justizzentrum Jena mit dem Thüringer Oberlandesgericht
Zum Thüringer Oberlandesgericht gehört der Senat für Vergaberecht. Bildrechte: picture alliance/dpa | Martin Schutt

Millionenprojekt vor Gericht Rechtsstreit verschleppt Digitalisierung der Thüringer Gesundheitsämter

19. Dezember 2024, 14:00 Uhr

Ursprünglich sollten die Thüringer Gesundheitsämter schon längst mit einer einheitlichen, webbasierte Software arbeiten und bequem Daten untereinander und mit anderen Einrichtungen austauschen können. Weil ein Software-Unternehmen juristisch gegen das Vergabeverfahren vorgeht, konnte der Auftrag aber noch nicht einmal vergeben werden. Jetzt prüft die Vergabekammer des Oberlandesgerichtes.

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Die Ausschreibung für die Digitalisierungspläne für die Thüringer Gesundheitsämter ist jetzt vor Gericht gelandet.

MDR THÜRINGEN - Das Radio Do 19.12.2024 18:00Uhr 00:39 min

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Die geplante millionenschwere Digitalisierung der Gesundheitsämter in Thüringen ist nun ein Fall für das Thüringer Oberlandesgericht. Eine Sprecherin des Gerichtes in Jena bestätigte MDR INVESTIGATIV, dass sich ein Unternehmen der Software-Branche gegen das Vergabeverfahren gewendet hat. Es habe bereits eine erste mündliche Verhandlung des Vergabesenats gegeben.

Eine mündliche Verhandlung vor dem Thüringer Oberlandesgericht habe am 11. Dezember 2024 stattgefunden, teilte eine Sprecherin des Thüringer Gesundheitsministeriums mit, weil eine Bietergemeinschaft im Rahmen des Vergabeverfahrens "Zentrales, webbasiertes Fachverfahren für den Öffentlichen Gesundheitsdienst in Thüringen" ein Nachprüfungsverfahren gegen den Freistaat Thüringen eingeleitet habe. Die Gründe ließ das Ministerium offen. Die Bietergemeinschaft äußerte sich auf Anfragen des MDR in dieser Sache bislang nicht.

Thüringen plant digitales Gesundheitsamt

Thüringen hat für die Digitalisierung der Gesundheitsämter Fördermittelzusagen vom Bund in Höhe von 16,8 Millionen Euro erhalten und plant ein digitales Gesundheitsamt. Für das Projekt wurden nach Angaben des Gesundheitsministeriums insgesamt bereits rund 2,5 Millionen Euro ausgegeben, davon allein 500.000 Euro für die Entwicklung der Leistungsbeschreibung der Fachsoftware.

eGesundheitsamt für Thüringen Der Bund hat nach den Erfahrungen aus der Corona-Pandemie 800 Millionen Euro für die Digitalisierung der Gesundheitsämter zur Verfügung gestellt. Thüringen verwendet die Fördergelder unter anderem für das Projekt „Plattform eGesundheitsamt“. Das besteht aus verschiedenen Teilprojekten. Das umstrittene webbasierte Fachverfahren, ein Werkzeug für eine bessere Zusammenarbeit, ein Fachportal und ein Datawarehouse. Ziel ist eine gemeinsame digitale Plattform für alle 22 Gesundheitsämter im Freistaat, um den Ämtern und weiteren Partnern aber auch Bürgerinnen und Bürgen Informationen und Dienstleistungen standardisiert und schneller zur Verfügung zu stellen sowie eine Vereinheitlichung bei der Datenerhebung.

Beim angefochtenen Vergabeverfahren geht es um das Kernelement des E-Gesundheitsamtes: ein zentrales, webbasiertes Fachverfahren für den Öffentlichen Gesundheitsdienst. Es geht laut Ausschreibung um die Entwicklung einer kundenspezifischen Software, die Systemeinführung sowie zeitlich befristete Leistungen zur Software-Pflege und Support.

Das Projekt war Ende 2023 ausgeschrieben worden. Der Ausschreibung zufolge sollte die Software den Gesundheitsämtern schon diesen September zur Verfügung stehen. Doch bis jetzt ist der Auftrag dafür noch nicht einmal vergeben, weil Mitbewerber vor die Vergabekammer gezogen sind und jetzt vor Gericht. Damit wird noch mehr Zeit ins Land gehen, bis der Auftrag überhaupt erst einmal vergeben werden kann. "Das Nachprüfungsverfahren verzögert den Projektstart weiter", teilte die Ministeriumssprecherin mit. Dabei wäre es wichtig, dass das Projekt endlich starten können, "um den damit verfolgten Digitalisierungsschub" der Gesundheitsämter durch unter anderem Interoperabilität, Standardisierung und Anbindung Externer zu erreichen."

Vergaberechtler: Um die 800 Nachprüfungsverfahren jährlich - Tendenz steigend

Laut dem Weimarer Vergaberechtler Christian Meier gibt es jährlich rund 800 solcher Nachprüfungsverfahren bundesweit, Tendenz steigend. Je umkämpfter ein Markt sei, desto häufiger würden Vergaben in diesem Bereich angegriffen. Dennoch seien solche Verfahren in Anbetracht der Anzahl der öffentlichen Vergaben eher selten, noch seltener sofortige Beschwerden zum Oberlandesgericht.

Je umkämpfter ein Markt ist, desto häufiger werden aber Vergaben in diesem Bereich angegriffen.

Fachanwalt für Vergaberecht Christian Meier, Weimar

Mit Blick auf den generellen Ablauf solcher Verfahren sagte er, befinde sich die Nachprüfung bereits vor dem Oberlandesgericht, dürfte sie sich langsam dem Ende zuneigen. Dieses Gericht sei die letzte Instanz in Nachprüfungsverfahren, nur in ganz seltenen Fällen lege ein Vergabesenat noch vor einer Entscheidung die Sache zur Klärung dem Bundesgerichtshof oder dem europäischen Gerichtshof vor. Klicken Sie auf den Pfeil rechts, um das komplette Interview zu lesen:

Wann landen Verfahren eigentlich vor der Vergabekammer oder dem Vergabesenat? Antworten vom Weimarer Fachanwalt für Vergaberecht Christian Meier.

Warum gehen Mitbewerber gegen Vergabeverfahren vor? Welches sind berechtigte Gründe?
Christian Meier:
Das Vergaberecht hat strenge, sehr formale Regeln, die dazu dienen, den interessierten Unternehmen gleiche Chancen auf einen Auftrag einzuräumen. Der Zuschlag darf nur - für den konkreten Auftrag - geeigneten Unternehmen und nur auf das wirtschaftlichste Angebot erteilt werden. Welches die Eignungs- und Zuschlagskriterien sind, legt der öffentliche Auftraggeber fest. Diese müssen dem Auftrag aber angemessen sein. Es herrscht ein strenges Gleichbehandlungsgebot. Wenn ein Bieter meint, dass er durch einen Verstoß des Auftraggebers gegen das Vergaberecht benachteiligt wird, kann er das rügen und auch von der Vergabekammer überprüfen lassen. Natürlich hat jedes Unternehmen, das sich um einen Auftrag bemüht, auch ein großes Interesse daran, diesen auch zu bekommen. Meint es, dass ein Vergaberechtsverstoß vorliegt, wird es diesen auch rügen.

Wann landet ein Verfahren vor dem Gericht?
Christian Meier:
Meint ein Unternehmen, berechtigt oder unberechtigterweise, dass ein Vergaberechtsverstoß vorliegt, muss er diesen zunächst im Auftraggeber gegenüber rügen. Reagiert der Auftraggeber hierauf nicht oder weist er die Rüge als unberechtigt zurück, kann dieses Unternehmen zunächst die Vergabekammer anrufen und beantragen, das Vergabeverfahren auf die gerügten Vergaberechtsverstöße hin zu überprüfen. Sobald ein solcher Nachprüfungsantrag bei der Vergabekammer eingeht, wird dieser - wenn er nicht ganz offensichtlich unzulässig oder unbegründet ist - dem öffentlichen Auftraggeber unverzüglich zugestellt. Ab diesem Moment tritt ein Zuschlagsverbot in Kraft. Das heißt, dass der Auftraggeber, solange das Nachprüfungsverfahren dauert, den Auftrag nicht erteilen darf. Selbst wenn die Vergabekammer den Nachprüfungsantrag zurückweist, bleibt zunächst das Zuschlagsverbot bestehen. Die vor der Vergabekammer unterlegene Seite kann gegen die Entscheidung eine sofortige Beschwerde zum Oberlandesgericht einreichen. Von Ausnahmefällen abgesehen, wird dann das Zuschlagsverbot bis zur Entscheidung des Oberlandesgerichts verlängert.

Wird heutzutage öfter die Vergabekammer und/oder das Gericht angerufen? Gehört das bereits zur Routine? Warum?
Christian Meier: Die jährliche Anzahl von Nachprüfungsverfahren beläuft sich auf circa durchschnittlich 800, Tendenz aber steigend. In Anbetracht der Anzahl der öffentlichen Vergaben sind Nachprüfungsverfahren eher selten, noch seltener sind sofortige Beschwerden zum Oberlandesgericht. Je umkämpfter ein Markt ist, desto häufiger werden aber Vergaben in diesem Bereich angegriffen.

Sind die Summen, um die es hier geht, Ansporn, um gegen ein Verfahren vorzugehen?
Christian Meier:
Der Auftragswert ist nicht unbedingt ein Indikator für die Wahrscheinlichkeit, dass ein Bieternachprüfungsverfahren einleitet. Allerdings sind hohe Auftragswerte natürlich auch ein verständlicher Anreiz, um einen Auftrag zu kämpfen.

Was bedeutet das für die betroffenen Projekte?
Christian Meier:
Da ich die Projekte überhaupt nicht kenne, kann ich hierzu kaum etwas sagen. Wenn die Nachprüfung bereits in der Beschwerdeinstanz, also vor dem Oberlandesgericht, ist, dürfte es sich aber langsam dem Ende zuneigen. Das Oberlandesgericht ist die letzte Instanz in Nachprüfungsverfahren, nur in ganz seltenen Fällen liegt ein Vergabesenat vorher selbst entscheident die Sache zur Klärung einer allgemein gültigen Rechtsfrage dem Bundesgerichtshof oder dem europäischen Gerichtshof vor.

Unterschiedliche Softwareanwendungen erschweren Datenaustausch

Derzeit verwenden alle 22 Gesundheitsämter unterschiedliche Software-Anwendungen, darunter "OctoWare", "Mikropro" und "ISGA" - damit gibt es laut Gesundheitsministerium weiterhin Probleme beim Datenaustausch selbst zwischen Behörden, die die gleiche Software verwenden. An dieser können sie theoretisch auch nach einer Einführung einer einheitlichen Software festhalten, sie sind nicht verpflichtet, die eigens für Thüringen zu entwickelnde Software zu nutzen.

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Nachrichten | 19. Dezember 2024 | 14:00 Uhr

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