Mauerfall "Die Wende hat uns viel gebracht": Wie lebt es sich heute in der ehemaligen Sperrzone?
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03. Oktober 2024, 14:01 Uhr
An der ehemaligen innerdeutschen Grenze liegt Almerswind im thüringischen Kreis Sonneberg. Fast in Bayern. Der Ortsteil der Stadt Schalkau war bis zur Wende Sperrgebiet. Wie sich die Menschen 35 Jahre nach dem Mauerfall an die Wende erinnern.
- Almerswind im Kreis Sonneberg liegt an der Grenze zu Bayern und war zu DDR-Zeiten Sperrgebiet.
- Der Mauerfall weckt bei den Almerswindern positive Erinnerungen - aber er hatte auch Nachteile für Handwerker.
- Junge Menschen im Ort engagieren sich für mehr Zusammenhalt und den Austausch mit dem bayerischen Nachbarort.
Samstagvormittag. Blasmusik schallt aus dem Radio. Die Almerswinder wissen, dass das nur eines bedeuten kann: "Der Mäggi macht wieder seine Gartenarbeit", sagt man sich hier. Die Heckenschere brummt. Mäggi ist ein Almerswinder Original, heißt es. Sein Haus liegt zwischen zwei Abzweigen - links geht es in Richtung Schalkau und dann Eisfeld, rechts entlang nach Sonneberg. Der Garten ist umzäunt, aber nicht ganz geschlossen. Den Zaun wolle er bald mal wieder streichen, sagt er.
Almerswinder in der DDR: Unbeschwert in der Kindheit und zweifelnd in der Jugend
Michael Christian Bräutigam, "Mäggi" wie er hier genannt wird, ist 1963 geboren. Da war Almerswind schon zehn Jahre Sperrzone. Die Kindheit habe er sorglos und unbeschwert verbracht, sagt er. Hinter ihm setzt gerade ein Mähroboter seine Arbeit fort.
Wir haben uns gesagt: Jetzt müssen wir erst alte Männer werden, damit wir mal in den Westen dürfen, weil: Als Rentner durfte man ja fort.
Als Jugendlicher habe es dann bei ihm Klick gemacht, sagt Mäggi, ein riesiges Gefängnis und er mittendrin. Manchmal habe er oberhalb des Dorfes gesessen, mit Blick auf den Grenzzaun: "Wir haben uns gesagt: Jetzt müssen wir erst alte Männer werden, bis wir mal in den Westen dürfen, weil: Als Rentner durfte man ja mal fort." Wenn ein Freund von außerhalb zu Besuch kommen wollte, musste er einen Passierschein für die Sperrzone beantragen - oft ohne Erfolg. Wer keinen hatte, durfte nicht nach Almerswind.
Mit dem Mauerfall: Ein Handwerk muss weichen
Positiv an der DDR, findet Mäggi, sei der starke Zusammenhalt gewesen. Jeder habe sich eben gegenseitig gebraucht. "Geld war Nebensache", weil ja eh jeder das Gleiche bekommen habe. Sein Brot hat er damals als Korbmacher verdient, Mitte der 1990er-Jahre musste er das Geschäft und die Leidenschaft aufgeben. "Es ging dann nicht mehr, der Preisdruck war zu hoch", erzählt Mäggi. Er arbeitete anschließend als Küchenmonteur, dann als Geldbote, heute in einer Baufirma. In der Ortsmitte erinnert eine große Korbvase seines Nachbarn und Korbmacher-Kollegen Frank Kranich an die Tradition des Handwerks im Dorf.
An den Tag, an dem die Grenze geöffnet wurde, kann sich der 61-Jährige gut erinnern. Sie fuhren am 10. November nach Eisfeld im Kreis Hildburghausen. Es ging mit dem Wartburg gleich Richtung Coburg. Man wusste erstmal nicht, wo man hinfahren musste. "Die ganzen Dörfer dort, das war wie ein unbekanntes Land, obwohl sie nur ein paar Kilometer entfernt waren." Die Bayern seien zum Biertrinken nach Almerswind gekommen, weil es so billig war, sagt er. Und "wir sind rüber und wollten mal was Gescheites haben". Einmal habe eine Wirtin ihnen vor Freude die Rechnung gleich ganz bezahlt, weil Mäggi und seine Freunde sich als DDRler zu erkennen gegeben hatten.
Grenzöffnung im Dezember 1989: "Ich hab' nur noch geheult vor Freude"
In Almerswind gab es erst knapp einen Monat später einen richtigen Übergang. Der Kirchweg, heute ein Wanderweg, der Almerswind und das bayerische Nachbardorf Weißenbrunn vorm Wald in Bayern über Jahrzehnte trennte, wurde am 2. Dezember 1989 wiedereröffnet. Mäggi erinnert sich: "Ich hab' nur noch geheult vor Freude." Herzlich lagen sich Almerswinder und Weißenbrunner in den Armen. Man war neugierig aufeinander, Freundschaften entwickelten sich, Verwandte konnten sich wieder besuchen, daran hatte damals keiner mehr geglaubt.
Die Euphorie, der Zusammenhalt, dass alle in einem Boot sitzen - davon sei heute wenig übrig, glaubt Mäggi. Die Leute seien unzufrieden geworden, findet er. "Ich denke, viele haben vergessen, was wirklich schlecht ist." Und das Dorf habe sich gut entwickelt, allein baulich. "Die Wende hat uns viel gebracht", die Häuser konnten mit Baumaterial gepflegt werden, das es in der DDR gar nicht gab. Die Straße, die heute in "den Westen" führt, wurde erstmals auch für Autos aufgebaut. Diejenigen, die arbeitslos geworden waren, konnten leichter eine neue Arbeit finden - wegen der Nähe zu Coburg.
Traum von Landleben und Nachbarschaftshilfe ist geblieben
Almerswind hat etwa 250 Einwohner. 1992 waren es noch 320. Die Kinder von Mäggi sind wie etliche andere der Generation weggezogen, der Liebe wegen oder für Ausbildung oder Beruf. Neu hierher ziehen hingegen kaum Menschen, man kenne nicht mehr jeden, der herkommt.
Eine der Zugezogenen ist Laura Schnetter. Die 29-Jährige hat sich hier vor vier Jahren ein altes Haus gekauft. Eigentlich stammt sie aus Sonneberg. Sie wollte für sich und ihre vier Pferde ein Grundstück, bei dem die Tiere direkt am Haus stehen können.
Dass sie einen Stall im Garten haben kann, dafür musste sie im Umkreis von 100 Metern bei allen Nachbarn um Erlaubnis bitten. Wegen des Geruchs oder eventueller Ruhestörungen. "Da hat wirklich keiner unfreundlich reagiert, die meisten haben interessiert nachgefragt", erzählt die gebürtige Sonnebergerin, während ihr Blick über ihr Grundstück schweift. Ihr Pony Robi knabbert Heu aus einem Netz, das an einem alten Wäschegerüst hängt.
Als sie einmal erst spätabends mehrere Tonnen Holzhackschnitzel für ihr Bauvorhaben geliefert bekommen hatte, weil der Lieferant wegen einer Panne auf sich warten ließ, kamen nach und nach etliche Nachbarn aus ihren Häusern und packten mit an, bis der Hänger leer war. "Ich wusste gar nicht, wo die alle herkamen. Ich kannte ja niemanden. Der Zusammenhalt hat mich beeindruckt", erzählt sie.
Leben in Almerswind heutzutage: Kultur läuft nur langsam wieder an
Dass in Almerswind nicht so viel los ist, stört sie nicht. Laura Schnetter erzählt, sie genieße die Ruhe und dass sie hier den Traum vom eigenen Haus mit den Tieren leben kann. Den Fahrtweg zur Arbeit in Sonneberg nimmt die Immobilienkauffrau dafür gerne in Kauf. Ein Auto braucht man hier, auch wenn jeden Freitag ein Bäckerwagen vorbeikommt.
Dem Dorf mehr Leben einhauchen - eine Idee dazu hatte vor knapp drei Jahren André Kranich. Der 39-Jährige zog nach einer Malerlehre nach Weimar und ließ sich dort zum Heilerziehungspfleger ausbilden. Mittlerweile arbeitet er in Kassel. Nach der Corona-Pandemie wollte er in seinem Heimatdorf einen sozialen Treffpunkt schaffen. Er wollte das Gelernte übertragen: von der Theorie in die Praxis.
Er kaufte 2022 das alte Freizeitzentrum, das lange der Gemeinde gehörte, und nannte es "Flechtwerk". Kleine Wurzeln, die sich verweben sollen, Menschen sollen wieder zusammenkommen. Mit seiner Partnerin Theresa Sengle, Familie und Helfern aus dem Dorf renovierte er, organisierte parallel kleine Veranstaltungen. Vereine und Anwohner sollten Ideen einbringen, was sie sich für den Ort wünschen: die Reparatur eines Brunnens, gemütliches Beisammensein, wieder mehr Gemeinschaft.
Wenn eine Notsituation ansteht, sind immer alle schnell da. Aber bei Kultursachen - da sind die Almerswinder echt zäh.
Am Anfang waren die Almerswinder skeptisch, vieles war für sie noch schwer greifbar. "Wenn eine Notsituation ansteht, sind immer alle schnell da. Aber bei Kultursachen - da sind die Almerswinder echt zäh," so Kranich. Lesungen oder Yoga - er habe erst ausprobieren müssen, worauf die Einheimischen anspringen, aber vor allem DDR-Geschichte oder Events mit regionalem Bezug kämen immer gut an.
Eine Gruppe älterer Damen aus Almerswind habe von Beginn an keine Veranstaltung ausgelassen - egal ob Krimiautor oder Kinoabend mit Punk-Musik. Das Projekt wächst weiter.
Dorfleben nach der Wende: Eingeschlafene Feste und Bräuche
Die Damen gehören zum Almerswinder Turnverein, einer der wenigen Vereine, die es noch gibt. Frauen, die sich immer regelmäßig zum Sport trafen. Doch sie waren vor und nach der Wende mehr als das. Sie organisierten das Schlossparkfest über zwei Jahrzehnte, das Highlight des Jahres mit Hunderten Besuchern. Und dann gab es noch Kirchweih und Lindenfest, Letzteres organisiert nun die Feuerwehr.
"Das täte dem Ort sicher mal wieder gut", sagt Birgit Höhlein, die im Vorstand der Turnfrauen ist. Durch das Wohnzimmerfenster sieht man Autos nach Coburg und andere wieder zurückfahren. Am einzigen Wirtshaus "Zur Post" auf der anderen Straßenseite hängt an diesem Dienstagmittag ein "Geschlossen"-Schild. Ein Flyer lädt zum Eisbeinessen anlässlich der Kirchweih am ersten Oktoberwochenende ein - "Bitte vorbestellen!".
Mit 60 Jahren zählt Höhlein zu den jüngeren Frauen im Verein. Eine Kirchweih mit großer Bambule, Zelt und vielen Kirmespärchen - das wiederzubeleben, sei schwer vorzustellen, weil schlicht der Nachwuchs fehlt. Die letzte Kirmes gab es 2011, dann sei der Brauch eingeschlafen, erzählt sie. Danach seien ihre Kinder weggezogen. Für das Schlossparkfest fehlen nunmehr die, die es stemmen.
Schattenseite nach dem Mauerfall: Almerswinder Schloss verfällt langsam
Das Almerswinder Schloss: Früher das Landschloss im Ortskern der ganze Stolz und bis zur Jahrtausendwende unter anderem als Kindergarten genutzt, ist es schon seit bald fünf Jahren für die Almerswinder nahezu unzugänglich. Der auswärtige Besitzer, ein Baron rheinländischen Adelsgeschlechts, verlange zu hohe Mieten für die Nutzung, sagen einige Anwohner.
Birgit Höhlein lebt bis heute gerne hier. Auch vor der Wende war das Leben hier kein schlechtes, sagt sie. Alles ging eben seinen sozialistischen Gang. Mal von hier abhauen? Das war damals kein Gedanke, der ihr kam - "wir hatten doch die Grenze hier ständig vor Augen". Aus dem Nachbarort sei einer ihrer Schulkameraden abgehauen. Noch vor dem Mauerfall sei Birgit Höhlein aus der Partei ausgetreten, etwas, worauf sie heute stolz ist. In der DDR arbeitete sie als Maschinenbauzeichnerin.
Jeder hat von zu Hause Essen und Trinken mit ins Freizeitzentrum gebracht, wir haben geredet und es wurde immer schöner und schöner.
Was bleibt: Wunsch nach mehr Austausch mit bayerischen Nachbarn
Die Erinnerung an die Grenzöffnung sei bis heute emotional, sagt sie und muss bei dem Satz schlucken. Die ersten gemütlichen Abende mit den Weißenbrunnern - unvergesslich. "Jeder hat von zu Hause Essen und Trinken mit ins Freizeitzentrum gebracht, wir haben lange geredet und es wurde immer schöner und schöner", sagt sie. Nach ein paar Jahren sei der Kontakt dann weniger geworden, man entwickelte sich eben weiter oder hatte unterschiedliche Interessen.
Was sie damals (in der DDR) mit uns gemacht haben - mit der Zeit hadere ich kaum noch damit. Vielleicht verdrängt man es auch.
Wie die 60-Jährige heute über die DDR denkt? "Was sie damals mit uns gemacht haben - mit der Zeit hadere ich kaum noch damit. Vielleicht verdrängt man es auch." Der Ort brauche wieder mehr junge Leute. Die Nähe zu Bayern sei da ein Vorteil. Ohnehin gingen viele, auch mal zum Einkaufen, eher von hier nach Rödental und Coburg als nach Sonneberg und Suhl. Und sie wünscht sich, dass die Gemeinschaft bleibt.
Zum diesjährigen Tag der Deutschen Einheit haben die Weißenbrunner einen Umtrunk auf dem historischen Kirchweg organisiert. Mit Bier und Bratwürsten. Das letzte Treffen gab es zum 30-jährigen Mauerfall-Jubiläum. Mäggi will wieder mit der Posaune die Nationalhymne spielen. Und Birgit Höhlein sagt: "Wäre schön, wenn es wieder öfter hin und her geht. Vielleicht passt's ja mal wieder."
MDR (ost)
Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Johannes und der Morgenhahn | 03. Oktober 2024 | 07:30 Uhr
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