Sozialforschung Gewollte Kinderlosigkeit bei Männern? Forscherinnen aus Gera kündigen neue Studie an
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02. September 2023, 05:00 Uhr
Ein Leben ohne Kind kann eine selbstbewusste Lebensentscheidung von Frauen sein. Das belegten 2022 Annkatrin Heuschkel und Prof. Dr. Claudia Rahnfeld in Ihrer bundesweit beachteten Studie "Gewollte Kinderlosigkeit". Im Interview mit MDR THÜRINGEN sprechen die Forscherinnen der Dualen Hochschule Gera darüber, wie ihre Studie "zu einem Befreiungsschlag für Frauen" geworden ist und warum sie jetzt an einer Studie über Männer-, deren Rolle in der Gesellschaft und die Vaterschaft arbeiten.
Wie die Studie zur gewollten Kinderlosigkeit bei Frauen eine Debatte auslöste
MDR THÜRINGEN: Ihre Studie zur gewollten Kinderlosigkeit bei Frauen ist auf ein großes Medieninteresse gestoßen. Im Oktober 2022 hat MDR THÜRINGEN erstmals darüber berichtet. Anschließend haben eine Vielzahl anderer Medien das Thema aufgegriffen. Jetzt mit etwas Abstand: Was hat die Studie in ihren Augen so erfolgreich gemacht? Woher kam dieses große Interesse in der Öffentlichkeit?
Rahnfeld: Zu der gewollten Kinderlosigkeit bei Frauen gab es bis dato keine wirklichen empirischen Erkenntnisse. Die Studien, die vorlagen, waren sehr überschaubar und veraltet. Unsere Studie ist, glaube ich, deswegen auf so ein riesiges Medienecho getroffen, weil wir viele gängige Vorurteile widerlegen konnten: Wir haben gezeigt, dass die gewollt kinderlose Frau nicht partnerlos und karriereaffin ist und eine sehr emanzipierte Entscheidung trifft. Die Frauen schlagen sich nicht mit Reue herum, sondern gewollte Kinderlosigkeit geht oft damit einher, dass wirklich kein Kinderwunsch besteht.
Solange sich Frauen für Dinge rechtfertigen müssen, die für Männer völlig in Ordnung sind, haben wir die Gleichstellung einfach noch nicht erreicht.
Das Medienecho zeigte, dass das ein Thema ist, was bisher medial und auch von feministischer Seite unterbelichtet war. Die Studie war so etwas wie ein Befreiungsschlag für Frauen und ich bin mittlerweile stolz darauf, dass es auch in den feministischen Kreisen stark diskutiert wird. Solange sich Frauen für Dinge rechtfertigen müssen, die für Männer völlig in Ordnung sind, haben wir die Gleichstellung einfach noch nicht erreicht.
Das heißt, Sie haben vor allem von Frauen sehr positiven Zuspruch erhalten. Wie hat sich das konkret geäußert?
Rahnfeld: Da schwang eine große Dankbarkeit mit. Viele Frauen haben mit uns Kontakt aufgenommen und haben sich bedankt, dass wir dieses Thema wissenschaftlich angefasst haben und dass es jetzt medial diskutiert wird. Sie haben uns bestätigt, dass der Rechtfertigungsdruck für Frauen bei diesem Thema sehr groß ist und dass es hier noch keine gesellschaftliche Akzeptanz gibt. Es gab also eine Validierung unserer Studie durch die Reaktionen.
Heuschkel: Das hatten wir schon während der Durchführung der Studie gemerkt, weil in dem offenen Anmerkungsfeld, das sich am Ende unseres Fragebogens fand, viele Frauen schrieben, dass sie dankbar sind, dass das Thema jetzt wissenschaftlich untersucht wird. Viele haben da direkt ihr Interesse an den Ergebnissen bekundet. Und wie Frau Rahnfeld gerade schon gesagt hat: Auf die Beiträge, die wir hochgeladen oder die wir geteilt haben, schrieben uns viele Frauen persönlich an oder kommentierten die Beiträge sehr positiv.
Diese positiven Kommentare haben wir zum Teil auch unter dem MDR-Artikel beobachtet. Es gab insgesamt ein enormes Kommentaraufkommen bei diesem Thema. Die Leute haben darüber diskutiert. Es gab aber auch vielfach Kritik. Waren sie überrascht davon, wie groß das Thema geworden ist? Denn dass so viele Medien über eine wissenschaftliche Studie berichten, ist ja doch keine Selbstverständlichkeit.
Heuschkel: Wir waren tatsächlich überrascht über die Vielzahl der Reaktionen. Während wir auf der einen Seite sehr viel Zuspruch erhielten, begleitet von persönlichen Geschichten, mussten wir auf der anderen Seite mit negativen, zum Teil abwertenden Kommentaren zurechtkommen. Diese betrafen entweder uns persönlich oder bezogen sich auf das Lebensmodell der gewollt kinderlosen Frauen. Die Entscheidung, keinen Nachwuchs zu bekommen, wurde abgewertet und die Frauen auf ihre "eigentliche Rolle" in der Gesellschaft hingewiesen, also: Mutter zu werden und sich um den Nachwuchs zu kümmern.
Nur mal ein paar Beispiele aus den Kommentaren beim MDR: "Egoismus gepaart mit der Unfähigkeit Verantwortung zu übernehmen und die Weigerung erwachsen zu werden". Oder: "Mit solchen habe ich jeden Tag zu tun, spätestens im Pflegeheim bereuen sie alles." Auch kann noch genannt werden: "Gelebte Egomanie! Eine traurige Folge des sogenannten Feminismus". Und zum Abschluss noch diesen Kommentar: "Letzte Generation nicht durch den Klimawandel, sondern durch Frauen, die nicht Mutter werden wollen. Hierzu muss ich sagen, das deutsche Volk stirbt aus!"
Dieses Phänomen konnten wir nicht nur beim MDR, sondern bei vielen anderen Beiträgen von ZDF-Info, Funk, Welt und noch weiteren beobachten. Innerhalb der Gesellschaft dominiert also immer noch das Bild von der Frau als Mutter, die vorrangig die Betreuung und Versorgung des Kindes übernimmt, die eigene Karriere zumindest zeitweise zurückstellt und den Großteil der Elternzeit wahrnimmt. Hingegen wird eine Frau, welche sich bewusst gegen Nachwuchs entscheidet, oft als egoistisch angesehen. Zudem werden ihr die vielen Vorteile von Kindern dargelegt oder eher schon aufgedrängt. Zudem versucht die Politik, die Frauen vorrangig mit finanziellen Leistungen von der Mutterschaft zu überzeugen. Auch hier kann man fast schon von Überreden sprechen.
Ich bin dankbar und glücklich darüber, dass die Medien ein offenes Ohr hatten, denn wir müssen uns auch eingestehen, dass eine Studie nur eine sehr begrenzte Wirkung hat, wenn sie nicht in die Öffentlichkeit vordringt.
Hier kollidieren also die gesellschaftlichen Erwartungen mit den persönlichen Vorstellungen der Frauen. Unsere Studie stellte das bisherige Tabuthema der gewollten Kinderlosigkeit in den Mittelpunkt, führte Beweggründe für die Entscheidung gegen Nachwuchs an und weist auch auf die daraus resultierenden Konflikte hin. Es zeigt sich, dass insbesondere jüngere Generationen die gesellschaftlichen Leitbilder zunehmend hinterfragen. Dass es Menschen geben wird, für die das kinderlose Lebensmodell keine Option darstellt, darüber waren wir uns im Vorhinein bewusst. Aber welche Tragweite das Thema hat, das konnten wir vorher nicht in vollem Ausmaß erfassen.
Wir hatten schon im letzten Interview darüber gesprochen, ob ihre Studie vielleicht auch politisch instrumentalisiert werden könnte. Sie haben das damals von sich weggeschoben. Als Autor des ersten Artikels, habe ich solche Zuschriften bekommen, unter anderem vom Verein Kinderreicher Familien in Thüringen, der so etwas wie eine Gegendarstellung gefordert hat. Haben Sie ähnliche Erfahrungen gemacht?
Rahnfeld: Tatsächlich hatten wir Anfragen von Parteien, aus dem konservativen und rechten Milieu, die Einblicke in unsere Datenerhebung und das Forschungsdesign haben wollten - vermutlich mit dem Ziel, die Gültigkeit unserer Daten anzuzweifeln. Das gab es durchaus. Ich glaube, dass sich Menschen durch unsere Studie in ihrem Lebensmodell angegriffen fühlten. Ansonsten ist das politische Interesse aber eher gering geblieben. Ich habe nach dem hohen medialen Aufkommen damit gerechnet, dass Parteien uns anfragen, was denn jetzt Konsequenzen oder Handlungskonzepte sein könnten - das ist aber nicht passiert.
Mediales Interesse ist nur die eine Seite des Ganzen, aber für Sie als Wissenschaftlerinnen ist es natürlich auch wichtig, wie andere Wissenschaftler ihre Studie aufnehmen und rezipieren. Welche Resonanz haben sie denn in der Fachwelt erfahren?
Rahnfeld: Also es gab durchaus interessierte Kollegen, die nachgefragt haben und das Thema innovativ und spannend fanden. Die Wissenschaft lebt aber davon, dass man auf die Publikationen wartet, bevor man darauf Bezug nimmt. Da unsere Studie gerade erst vor zwei Wochen veröffentlicht wurde, müssen wir noch ein bisschen warten, wie die Resonanz sein wird.
Frau Heuschkel, für Sie ist es ja Ihre allererste wissenschaftliche Publikation. Im Alter von 22 Jahren, ist das schon beachtenswert. Wie fühlt sich das an, dass ihr Buch tatsächlich jetzt in Bibliotheken stehen wird?
Heuschkel: Das ist noch sehr unwirklich. Wir haben monatelang an der Publikation gearbeitet und vor einigen Wochen hielt ich das Buch zum ersten Mal in den Händen. Das ist überwältigend. Ich bin dankbar und glücklich. Auch darüber, dass die Medien da ein offenes Ohr hatten, denn wir müssen uns auch eingestehen, dass eine Studie nur eine sehr begrenzte Wirkung hat, wenn sie nicht in die Öffentlichkeit vordringt.
Rahnfeld: Die Wissenschaft und die gesellschaftliche Debatte waren bei diesem Thema nicht weit voneinander entfernt. Als Wissenschaftlerin macht man oft nur die Erfahrung, dass man im „Elfenbeinturm“ vor sich hinforscht, aber man stößt normalerweise keine gesellschaftlichen Debatten an, mit denen man etwas beeinflussen.
Neue Studie zu Männern und Vaterschaft geplant
Viele Menschen haben sich bei der Studie zu den kinderlosen Frauen gefragt, was eigentlich mit den Männern ist? Wollen die denn Kinder? Genau dieser Frage wollen sie jetzt in einer neuen Studie nachgehen: Es geht um Männer als Väter, aber auch um das Rollenverständnis des Mannes in der Gesellschaft. Wird das eine 1-zu-1-Blaupause der ersten Studie oder muss man dieses Thema dann doch ganz neu aufrollen?
Heuschkel: Also eine direkte Übertragung der Fragen ist da natürlich nicht möglich. Beim Thema Kinderlosigkeit von Männern liegen bislang kaum wissenschaftliche Untersuchungen vor. Die Studienlage ist noch begrenzter als bei der Kinderlosigkeit von Frauen. Wenngleich wir die Fragen nicht 1-zu-1 übernehmen können, werden sich auch in der neuen Studie Themenbereiche finden, die wir schon in der vorangegangenen Untersuchung hatten. Uns interessiert weiterhin, welchen Einfluss Faktoren wie das Bildungs- und Einkommensniveau, der Beziehungsstatus, die Erfahrungen der eigenen Kindheit und Jugend sowie die Haltung zum Thema Männlichkeit und Vaterschaft besitzen. Ob sich hier ähnliche Effekte wie bei den Frauen zeigen, lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht sagen.
Welche konkreten Fragen wollen Sie mit der neuen Studie beantworten? Es geht ja nicht nur um Vaterschaft, sondern auch um das Bild des Mannes in der Gesellschaft. Sehen Sie da einen Zusammenhang?
Rahnfeld: Aufbauen müssen wir auf einen Forschungsstand, der sehr uneindeutig ist. Schaut man sich die Vaterschaft an, dann deuten alle Daten darauf hin, dass Männer grundsätzlich viel bereiter sind, aktive Väter zu sein. Zugleich wissen wir aus statistischen Erhebungen, dass die Care-Arbeit (Sorge- und Pflegearbeit, z.B. bei der Versorgung von Kindern, Anm. d. Red.) und der Mental Load (psychische Belastung durch die Organisation einer Vielzahl von Alltagsaufgaben, Anm. d. Red.) aber viel stärker bei der Frau liegt. Es gibt so gut wie keine Daten dazu, wie der Entscheidungsprozess bei Männern zustande kommt, ob sie Vater werden oder ob sie kinderlos bleiben wollen. Deswegen haben wir das Forschungsdesign der neuen Studie grundsätzlich anders geplant. Wir starten mit einer qualitativen Vorstudie und führen gerade Interviews mit Männern durch, um belastbare Hypothesen entwickeln zu können, die dann in die Befragung gehen.
Feministischen Perspektiven prägen durchaus die gesellschaftlichen Debatten. Wir nehmen an, dass Männer das in irgendeiner Form aufnehmen und das natürlich ihre Männlichkeit beeinflusst.
Womöglich kollidiert der Aspekt der Männlichkeit sogar mit der Vaterschaft. Das ist zumindest eine unserer Annahmen. Zu Männlichkeit herrscht in der Forschung kein eindeutiges Bild vor. Feministische Perspektiven prägen durchaus die gesellschaftlichen Debatten. Stichworte wie "toxische Männlichkeit", "das Patriarchat der Dinge" sind vielen bekannt. Wir nehmen an, dass Männer das in irgendeiner Form aufnehmen und das natürlich ihre Männlichkeit beeinflusst.
Zugleich haben wir eine Entwicklung von Männlichkeit, die auf ein sehr tradiertes Bild zurückgeht. Wir erleben einen hohen Selbstoptimierungsdruck bei Männern. Die Anzahl der Schönheits-OPs ist so hoch wie noch nie. Obwohl Männer im Alltag normalerweise keine 100 Kilo stemmen müssen, gehen viele Männer ins Fitnessstudio und haben einen stählernen Körper. Männer stehen also offenbar ziemlich unter Druck. Die Sichtweise von Männern ist jedenfalls nicht gut erforscht und das wollen wir mit der Studie ändern und eine empirische Basis schaffen.
Die Frauen Studie war auch so erfolgreich, weil sie vor allem enorm viele Frauen gefunden haben, die sich dazu geäußert haben. Rund 1.100 Frauen haben an der Studie teilgenommen. Ist das auch die Zielmarke für die neue Studie?
Rahnfeld: Die Zielmarke für die quantitative Erhebung ist in jedem Fall eine vierstellige Quote. Allein deswegen, weil die Aussagekraft ansonsten sehr begrenzt wäre. Wichtig ist aber, dass wir jetzt in der Vorstudie gute, belastbare Hypothesen aufbauen, die sich über unterschiedliche Milieus, Bildungsgrad und Schichtzugehörigkeit erstrecken. Nur dann ist es möglich eine repräsentative Erhebung durchzuführen.
Wie kann man sich denn als Mann für die Studie bewerben?
Rahnfeld: Die Bereitschaft bei den Männern, das merken wir jetzt in der Vorstudie schon, ist durchaus groß. Dennoch brauchen wir so viele Männer wie möglich, die gerne über Männlichkeit und Perspektiven der Vaterschaft sprechen wollen. Sie können uns gern eine Mail (kontakt.gk@dhge.de) schreiben. Demnächst wird es auch eine separate Seite für das Projekt geben, auf der man sich für ein Interview bereiterklären kann. Wir wollen die Interviews bis Ende des Jahres führen. Danach gehen wir in die quantitative Erhebung und müssen das Ganze dann natürlich noch auswerten, sodass mit den ersten Ergebnissen im Spätsommer 2024 zu rechnen ist.
Wir sind gespannt und danken für das Interview.
Anmerkung der Redaktion: Kinderlos oder kinderfrei?
Gelegentlich wird bei diesem Thema gefordert, nicht von "kinderlosen", sondern von "kinderfreien" Frauen zu sprechen, denn der Begriff "kinderlos" bringe zum Ausdruck, dass ein wesentlicher Aspekt im Leben fehle. Durch das Wort "kinderfrei" würde hingegen betont, dass die Frauen sich freiwillig zum Leben ohne Kind entschieden haben. Da die Studie von „Kinderlosigkeit“ spricht, haben wir uns für eine einheitliche Bezeichnung entschieden, um Irritationen bei Lesern und Leserinnen zu vermeiden.
MDR (ask)
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