Kinderbetreuung Wie eine Erfurter Tagesmutter um den Erhalt ihrer Großtagespflege kämpft

12. Februar 2023, 18:21 Uhr

In Erfurt gibt es ein Betreuungsangebot für Kinder, das es laut Gesetz in Thüringen eigentlich gar nicht geben dürfte: Eine Tagesmutter und zwei Erzieherinnen haben sich zusammengeschlossen und betreuen gemeinsam 15 Kinder. Wo liegen die Chancen und Risiken solcher Großtagespflegen, die in vielen anderen Bundesländern üblich sind?

Ein ganz normales Mehrfamilienhaus in der Andreasvorstadt in Erfurt, die Fensterscheiben im Erdgeschoss sind von Kinderhänden bemalt. Es ist das einzige Zeichen, dass sich in dem Mietshaus ein besonderer Platz für Kinder verbirgt: Drei Frauen, zwei Erzieherinnen und eine Tagesmutter, kümmern sich um insgesamt 15 Kinder im Alter von wenigen Monaten bis sechs Jahren.

Drei Wohnungen wurden dafür kindgerecht umgebaut: mit kleinen Waschbecken und Toiletten, einem Bastelraum, einem Raum für Theater und Sport, Schlafzimmern und auch einer Kinderküche.

Betreuungsmodell gehört in anderen Bundesländern zum Alltag

Es ist ein Betreuungsmodell, für das es seit 2012 in Thüringen eigentlich keine Rechtsgrundlage mehr gibt. Seitdem ist es per Gesetz ausdrücklich ausgeschlossen, dass sich mehrere Tagesmütter zu einer Großtagespflege zusammenschließen. In den meisten anderen Bundesländern gehört das Modell dagegen zum Alltag.

Das Kindergartenwesen hat in Thüringen schon allein auf Grund der Tradition das Prä.

Felix Knothe, Sprecher des Bildungsministeriums

Nach Angaben des Bildungsministeriums wurde das Gesetz damals verändert, um eine deutliche Grenze zwischen Kitas und der Betreuung durch Tagesmütter zu ziehen. Weil es den "Liederspielplatz" in der Andreasvorstadt aber schon gab, bevor das Gesetz geändert wurde, darf er offenbar weiterbestehen.

Ministerium: Kindergärten haben Vorrang

"Das Kindergartenwesen hat in Thüringen schon allein auf Grund der Tradition das Prä", sagt Ministeriumssprecher Felix Knothe. Die Ansprüche sowohl bei der Ausbildung als auch bei der Ausstattung der Räume seien in Kindergärten und Kinderkrippen deutlich höher als bei Tagesmüttern und Tagesvätern.

Das müsse auch in der Organisation deutlich werden. Außerdem sei das Spezifische bei Tagesmüttern und –vätern, dass sie die Kinder familiennah betreuen. Das sei in Großtagespflegen nicht gegeben.

Großtagespflege Großtagespflege oder Kindertagespflege im Verbund meint die gemeinsame Betreuung von mehr als fünf Kindern durch zwei oder mehr Kindertagespflegepersonen. Die Ausgestaltung der rechtlichen Grundlagen ist in den Bundesländern und Kommunen zum Teil sehr unterschiedlich. In manchen Bundesländern - wie in Thüringen - ist die Großtagespflege gar nicht vorgesehen.

Zusammenschluss von zwei Tagesmüttern ermöglichen

Der Landesverband Kindertagespflege Thüringen sieht das grundsätzlich genauso. Großtagespflegen mit drei und mehr Tagesmüttern lehnt auch er ab - mit ähnlichen Argumenten wie das Ministerium.

Aber ein Zusammenschluss von zwei Tagesmüttern müsse unbedingt ermöglicht werden, erklärt Verbandsvorsitzende Claudia Meins-Reidenbach: "Wir haben von vielen Beispielen erfahren, in denen sich Erzieher/innen gerne selbstständig gemacht hätten. Dann davon aber wieder Abstand genommen haben, weil sie nicht alleine arbeiten wollten", so Meins-Reidenbach.

Co-Vorsitzende Micaela Scheffel sieht auch ein Sicherheitsproblem bei allein arbeitenden Tagesmüttern: "Wenn mir etwas passiert, bekommt das keiner mit", so Scheffel. Gemeinsamer Austausch über die Arbeit, Vertretung im Krankheitsfall und Arbeitsteilung bei der Vor- und Nachbereitung sind weitere Gründe, warum der Verband sich dafür einsetzt, dass sich zwei Tagesmütter zusammenschließen können.

Drei Wohnungen ohne Zuschüsse umgebaut

Zurück in die Erfurter Andreasvorstadt. Seit 2007 betreut Dagmar Taubert als ausgebildete Erzieherin eigenverantwortlich kleine Mädchen und Jungen, zunächst allein in einer angemieteten Wohnung, schon wenig später gemeinsam mit einer Kollegin. Zu diesem Zeitpunkt war ein Zusammenschluss mehrerer Tagesmütter auch in Thüringen kein Problem.

Über die Jahre ist erst eine zweite, dann die dritte Wohnung dazu gekommen, mit bis zu vier Erzieherinnen und Tagesmüttern, die sich um die Kinder kümmern. Alles wurde ohne Zuschüsse der Stadt kindgerecht umgebaut. Rund 60.000 Euro hat Taubert nach eigenen Angaben allein 2019 investiert, um optimal die Kinder betreuen zu können.

Jugendamt muss Pflegeerlaubnis erteilen

Wie alle Tagesmütter und -väter benötigen Dagmar Taubert und ihre Mitstreiterinnen eine Pflegeerlaubnis vom zuständigen Jugendamt. Nach Paragraf 10 des Thüringer Kindergartengesetzes ist das Jugendamt dafür verantwortlich zu prüfen, ob die Räume kindgerecht eingerichtet sind und die Erzieherinnen und Tagesmütter die notwendigen Abschlüsse vorweisen können.

Die Ausbildung einer Tagesmutter ist dabei aber deutlich kürzer als die einer Erzieherin. Die meisten Tagespflegepersonen entscheiden sich zudem dafür, öffentlich gefördert zu werden. Ihren Verdienst bekommen sie dann nicht direkt von den Eltern, sondern von der Kommune, die wiederum von den Eltern die Gebühren einzieht.

Ich will selbständig organisiert arbeiten.

Tagesmutter Dagmar Taubert

In Erfurt nutzen diesen Weg 66 der 70 Tagesmütter und bekommen so nach Angaben der Stadt pro Monat und Kind 170 Euro Sachkosten und 3,29 Euro pro Kind und tatsächlich betreuter Stunde. Eine Option, auf die Dagmar Taubert bewusst verzichtet: "Ich will selbständig organisiert arbeiten", so Taubert.

Auf Nachfrage, warum das Jugendamt eine Einrichtung zulässt, die es durch den Zusammenschluss mehrerer Tagesmütter und Erzieherinnen in dieser Form eigentlich nicht geben darf, will sich der Stadtsprecher nicht äußern und verweist unter anderem auf den Datenschutz.

Eltern schätzen Betreuungsmodell

Die Eltern in der Großtagespflege sind bereit, diesen Sonderweg mitzugehen und pro Kind 380 Euro je Monat für einen Ganztagesplatz bei Dagmar Taubert und ihren Kolleginnen zu bezahlen. Sie sind dankbar für die Vorteile, die dieses Modell bietet. So ist Julia Granditzki froh, dass Tochter Isabelle vom Babyalter bis zum Vorschulalter im "Liederspielplatz" bleiben kann.

Möglich ist das durch die Zusammenarbeit zwischen einer Tagesmutter und Erzieherinnen. Und für Elternsprecher Thomas Heßland ist wichtig, dass auf diese Weise ein breiteres Angebot an Aktivitäten möglich sei - jeder könne seine Stärken und Interessen einbringen und vermitteln. Wenn eine Tagesmutter krank oder im Urlaub sei, könnten die anderen einspringen - und sie seien den Kindern genauso vertraut.

Das alles bietet zwar auch eine Kinderkrippe oder ein Kindergarten. Im Vergleich dazu verweisen die Eltern der Großtagespflege aber auf einen besseren Betreuungsschlüssel und einen engeren Austausch zwischen Erzieherinnen, Tagesmutter und Eltern. Auch die niedrigere Infektionsgefahr in den kleinen Gruppen ist den Eltern wichtig.

Änderung des Kita-Gesetzes geplant

In der Politik ist der Wunsch, einen Zusammenschluss für Tagesmütter wieder zu ermöglichen, angekommen. Der Sprecher für frühkindliche Bildung der Linksfraktion, Daniel Reinhardt, sagte, im ersten Quartal 2023 planten die Koalitionsfraktionen eine umfassende Änderung des Kita-Gesetzes. Dabei sei auch vorgesehen, Kooperationen bei der Betreuung von Kindern zu erleichtern.

Auch die Stadt Erfurt würde es grundsätzlich befürworten, wenn sich Tagesmütter zusammenschließen könnten. Auf diese Weise sei es täglich möglich, sich fachlich auszutauschen, erklärte der Stadtsprecher MDR THÜRINGEN. Allerdings sollte die Zahl der Tagesmütter beschränkt sein - auf maximal zwei mit nicht mehr als zehn Kindern.

Verband: Unterschied zu Kitas muss erhalten bleiben

Nicht dringend ist der Änderungsbedarf aus Sicht des Paritätischen Wohlfahrtsverband: "Der Paritätische Thüringen würde eine solche Gesetzänderung nicht pro aktiv unterstützen", erklärt ein Sprecher.

Der Paritätische verweist dabei vor allem darauf, dass ein Unterschied zu einer Kindertageseinrichtung erhalten bleiben müsse. Außerdem stünden trotz der hinzugekommenen Flüchtlingskinder in allen Kommunen ausreichend Plätze für die Kinderbetreuung bereit.

Und das Thüringer Bildungsministerium? Das ist grundsätzlich gesprächsbereit. Es gebe erste Überlegungen, den Zusammenschluss von zwei Tagesmüttern zuzulassen, sagt Ministeriumssprecher Felix Knothe. Dafür brauche es aber politische Mehrheiten und es müsse am Ende im Landtag entschieden werden.

MDR (co)

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN | THÜRINGEN JOURNAL | 11. Februar 2023 | 19:00 Uhr

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