Rassismus Niemand greift ein: Junge Frau in Erfurter Innenstadt beschimpft und geschlagen

08. Oktober 2021, 19:00 Uhr

Eine junge Erfurterin mit dunkler Hautfarbe wird in der Innenstadt rassistisch beschimpft und geschlagen. Keiner der vielen Passanten greift ein. Hier berichtet sie über den Vorfall und ihre Erfahrungen mit Rassismus.

Als Deslin Ende September mittags auf dem Weg zur Arbeit ist, kommt in der Erfurter Marktstraße eine Frau auf sie zu und beschimpft sie. "Sie hat gesagt, ich soll mich aus Deutschland verpissen, dabei das N-Wort benutzt und mich als Vieh bezeichnet", erzählt Deslin im Gespräch mit MDR THÜRINGEN. Als sie die Frau fragt, was das solle, sei diese auf sie zugekommen, habe mehrmals mit der Sporttasche ausgeholt und irgendwann Deslin getroffen, obwohl sie mehrmals zurückweicht.

Es ist Mittwochmittag, kurz vor zwei: Als die Angreiferin laut herumschreit, ist die Innenstadt voller Menschen. "Keiner hat reagiert, alle Leute haben nur geguckt. Und als sie mich geschlagen hat, sind auch noch ein paar ältere Frauen an mir vorbei, sind ausgewichen, aber haben nichts gemacht."

Gefährliche Körperverletzung und Beleidigung

Obwohl sich Deslin wie festgefroren fühlt, ruft sie daraufhin selbst den Notruf und verfolgt die Frau in Richtung Wenigemarkt, ehe die Streife eintrifft und die Fliehende anhält. Zwar hat sie kurz Bedenken, von den Beamten nicht ernstgenommen zu werden, sagt sie, aber alles verläuft problemlos. Die 50-jährige Angreiferin muss sich jetzt wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung und Beleidigung verantworten.

Wenn ich jedes Mal etwas posten würde, wenn mir was passiert oder ich was mitbekomme, dann würde es in meinem Profil nur noch um Rassismus gehen.

Deslin

Auf ihrem Instagram-Kanal postet Deslin an diesem Tag einen Text, in dem sie von dem Angriff erzählt. Es ist das erste Mal, dass sie eine rassistische Erfahrung dort veröffentlicht. "Wenn ich jedes Mal etwas posten würde, wenn mir was passiert oder ich was mitbekomme, dann würde es in meinem Profil nur noch um Rassismus gehen. Dann könnte ich darüber Bücher schreiben und ich bin erst 22 Jahre alt."

Alltagsrassismus kennt sie seit ihrem sechsten Lebensjahr

Rassistische Erfahrungen macht Deslin schon ihr ganzes Leben. Die erste Erinnerung hat sie an einen Vorfall, als sie mit sechs vom Schwimmen nach Hause läuft. Oft fällt das N-Wort. Oft muss sie sich anhören, sie solle sich aus Deutschland "verpissen". Jetzt, nach dem ersten tätlichen Angriff, fühlt sie sich komisch, hat keine Lust, aus dem Haus zu gehen, und ist unruhig.


Normalerweise versuche sie, rassistische Erfahrungen mit ihrem Selbstbewusstsein wettzumachen, wie sie im Interview sagt. "Aber so richtig hilft mir das jetzt auch nicht mehr. Ich muss mich schon zwingen, alles möglichst normal zu machen. Erst recht, weil es kaum Leute gibt, die das verstehen oder richtig nachfühlen können."

Mein Selbstbewusstsein hilft mir auch nicht mehr richtig. Ich muss mich schon zwingen, alles möglichst normal zu machen.

Deslin

Der Angriff in der vergangenen Woche ragt für sie heraus. Aber Rassismus beginnt für die junge Erfurterin viel früher. Wenn sie auf Partys als Expertin für Rassismus herhalten muss, Komplimente für ihre "so schöne Hautfarbe" bekommt oder immer wieder die Frage gestellt wird: Wo kommst du her?

"Ich komme aus Halle. Und wenn das dann nicht ausreicht wie bei jedem anderen, und jedes Mal erwartet wird, dass ich meine komplette Familiengeschichte offenlege - das ist schon sehr nervig."

Erfurterin: Rassismus ist überall

Deslin kann sich nicht erklären, warum die Menschen mit Scheuklappen herumlaufen - wie sie es ausdrückt. Warum ihr niemand beigestanden und Zivilcourage bewiesen hat. Nicht zuletzt im Erfolg der AfD in Thüringen bei der vergangenen Bundestagswahl sieht Deslin einen Grund für solch extreme Vorfälle.

Die gesamte Black-Lives-Matter-Debatte sei vor diesem Hintergrund verpufft. Für sie ist Rassismus aber kein Ost- oder West-Phänomen: "Man kann nicht pauschalisieren, dass es nur an Thüringen oder Erfurt liegt. Rassismus gibt es überall."

Seid verständnisvoll und hört den Leuten einfach zu.

Deslin

Ezra: 17 rassistische Fälle in Erfurt 2020

Für das Jahr 2020 registrierte die Opferberatungsstelle Ezra insgesamt 17 Fälle von Angriffen mit rassistischem Tatmotiv in Erfurt. Die Dunkelziffer sei vermutlich um ein Vielfaches höher, heißt es. Deslin will alle ermutigen, rassistische Kommentare oder Verhalten zu korrigieren. "Das Thema ist für jeden wichtig, nicht nur für die, die es direkt betrifft. Seid verständnisvoll und hört den Leuten einfach zu."

Quelle: MDR THÜRINGEN

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Regionalnachrichten | 05. Oktober 2021 | 16:30 Uhr

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