Jugendschutz Lost in Translation? Was Mangas mit Sex am Hut haben und was nicht
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27. August 2023, 05:00 Uhr
Verbreiten Mangas jugendgefährdende Sex- und Pornoinhalte? Ein im Juni erschienener MDR-Artikel untersuchte diese Frage und empörte dabei viele Fans und Szenekenner. Sie sahen Mangas unter Generalverdacht gestellt. Wir haben uns daher entschlossen, das Thema nochmal zu vertiefen und sachlich einzuordnen.
"Dieser Artikel hat die Manga-Szene negativ und sexualisiert dargestellt, was einfach nicht stimmt", sagt Sarah Kleen vom "Planet Comic" Café am Erfurter Hirschlachufer. Zusammen mit ihrem Lebenspartner Jan Ettingshausen war sie für den Artikel "Sex und Pornografie in Mangas: Wo bleibt der Jugendschutz?" interviewt worden, der im Juni auf der Website von MDR THÜRINGEN erschienen war. Doch sie gaben ihre Zitate nicht zur Veröffentlichung frei, weil sie die Recherche als "zu einseitig" empfanden.
Auch im "Comic Attack", dem anderen Erfurter Comic-Buchladen, sahen Betreiber Henry Kießling und Verkäuferin Tina Hasenstein den Artikel kritisch. "Ich habe nur die Überschrift gelesen und fand die zu reißerisch, worauf ich dann den Rest nur überflogen habe", sagt Kießling. Hasenstein ergänzt, dass am Artikel nicht alles falsch gewesen sei, "aber es war auch nicht die ganze Wahrheit".
Artikel nahm Jugendgefährdung durch "Lolicon"-Mangas in den Blick
Der MDR-Artikel, der die Frage nach Kinder- und Jugendschutz in Mangas untersuchte, konzentrierte sich vor allem auf die Gefahren von "Lolicon"-Mangas, die in Japan Sex mit minderjährigen Mädchen zeigen. Diese sind zwar per Gesetz in Deutschland verboten, werden aber über dubiose Plattformen im Internet verbreitet. Durch diesen speziellen Fokus auf den Jugendschutz entstand bei vielen Fans der falsche Eindruck, dass MDR THÜRINGEN die Vielfalt der in Mangas dargestellten Frauenfiguren nicht anerkennen würden.
Dass Comic-Fans und Ladenbetreiber deshalb Kritik äußerten, ist also verständlich. Tatsächlich ist die Manga-Szene in den letzten Jahren mehr und mehr von Autorinnen geprägt worden, die dazu beitragen, Frauen in Mangas differenzierter darzustellen. Für eine genaue Bewertung des Jugendschutzes bei Mangas sind daher auch weitere wichtige Aspekte zu berücksichtigen. So ließ der erste Artikel etwa die Genreeinteilungen und den kulturellen Kontext von japanischen Mangas außer Acht. Fragen wir uns also:
Wie verbreitet sind Porno-Mangas wirklich?
Niemand bezweifelt, dass es Sex und Pornografie in Mangas gibt. Allerdings handelt es sich dabei um das Subgenre "Etchi" beziehungsweise "Hentai", das nur etwa fünf bis zehn Prozent aller in Japan produzierten Mangas ausmacht. In Deutschland ist der Anteil dieser Pornomangas erheblich kleiner, denn nur ein Bruchteil der in Japan produzierten Comics schafft es überhaupt auf den europäischen Markt.
"Die Verlage filtern schon, was aus Japan hierherkommt", erklärt Sarah Kleen vom Planet Comic Café. Allein dieser Auswahlprozess führe dazu, dass zwar viele romantische, aber nur wenige erotische oder gar pornografische Mangas nach Deutschland kämen. Dabei spielen auch europäische und deutsche Gesetze ein Rolle, die die Einfuhr der problematischen "Lolicon"- und "Shotacon"-Mangas, die in Japan Sex mit Minderjährigen darstellen, weitestgehend verhindern. Mangas, in denen Sex stattfindet, sind deshalb kaum in deutschen Buchläden vertreten. "Das ist ein minimaler Teil und macht vielleicht ein bis drei Prozent aller Mangas aus", schätzt Jan Ettingshausen.
Mangas auf dem Index - wie jugendgefährdend sind Comics überhaupt?
Das spiegelt sich auch in der Statistik der Prüfstelle der Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz (BzKJ), die in Deutschland für die Indizierung von jugendgefährdenden Medien verantwortlich ist. Auf dem Index landen Mangas nämlich sehr selten. Unter den 75 Comics, die derzeit in Deutschland als indiziert gelten, befinden sich nach einer Auswertung von MDR THÜRINGEN nur zwölf Mangas. Zuletzt landete ein neuer Manga 2013 auf der Liste.
2021 wurde ein Manga reindiziert - also erneut auf die Liste gesetzt. Denn der Eintrag in die Liste der jugendgefährdenden Medien bleibt für 25 Jahre bestehen. Anschließend wird das betreffende Medium von der Liste gelöscht oder muss erneut indiziert werden. Durchschnittlich werden also nur drei Comics pro Jahr indiziert - in jedem zweiten Jahr ist darunter ein Manga zu finden. Zum Vergleich: Allein im Jahr 2022 wurden 83 Tonwerke indiziert. Insgesamt zählt der Index aktuell 2.008 Einträge zu Musik und anderen Audioproduktionen. Dass Comics und insbesondere Mangas also ein besonders jugendgefährdendes Medium wären, ist statistisch nicht haltbar.
Altersempfehlungen und Zensur expliziter Darstellungen
Trotzdem fehlt ein gesetzlicher Jugendschutz bei Comics und Mangas. Diesem Missstand begegnen Verlage oft durch eine selbst vorgenommene Altersempfehlung, die Käufern und Verkäufern als Hilfe dienen soll. Darüber hinaus werden Mangas mit einer Altersempfehlung von 16 Jahren und höher in der Regel in Folie verschweißt verkauft. Kinder können im Laden also kaum versehentlich in solche Mangas blättern.
Wer dennoch ein Manga Ü16 oder Ü18 aufschlägt, wird oft enttäuscht: In der Regel sind Sexszenen im deutschsprachigen Manga zensiert. "Ich spreche da immer von Lichtschwertern. Da ist nichts dargestellt", sagt Sarah Kleen vom Planet Comic Café und meint damit die Weißstellen, die sämtliche geschlechtliche Darstellungen überblenden. Die meisten Mangas im deutschsprachigen Raum sind daher in etwa so explizit wie nackte Barbie- und Ken-Puppen.
Richtig ist aber auch, dass die Händler bei den wenigen unzensierten Ü18-Mangas gesetzlich nicht gebunden sind, sofern die Bücher nicht indiziert wurden. Ein Verkauf an Jugendliche ist dann grundsätzlich erlaubt und durch den Online-Handel auch nicht zu verhindern. Hier liegt es letztendlich allein in der Verantwortung der Eltern, die Literatur ihrer Kinder auf jugendgefährdende Inhalte zu überprüfen.
Die Gesetzeslücke im Jugendschutz
Das liegt auch daran, dass es bei Schriftmedien - und auch bei Musik - keine gesetzlich anerkannten Verfahren gibt, die die jugendgefährdende Wirkung eines Mediums vor der Veröffentlichung prüfen. Dabei wäre eine solche Reglung als Pendant zu den freiwilligen Selbstkontrollen bei Filmen (FSK) und bei Spielen (USK) durchaus denkbar. Hier prüfen unabhängige Sachverständige vor der Veröffentlichung, ob ein Film oder ein Videospiel jugendbeeinträchtigend ist und eine Altersbeschränkung benötigt.
Diese Alterskennzeichnungen bei Filmen und Videospielen sind rechtlich bindend. So können beispielsweise auch Eltern ihre Kinder nicht mit ins Kino nehmen, wenn sie Filme mit einer FSK 16 oder 18 sehen wollen, ihre Kinder das Mindestalter aber noch nicht erreicht haben. "Auf diese Weise klassifizierte Medien dürfen auch nicht mehr indiziert werden", erklärt Michael Terhörst, der in der Bundeszentrale das Referat "Prüfstelle/gesetzlicher Jugendmedienschutz" leitet. Bei Filmen und Spielen kann die Prüfstelle nur tätig werden, wenn eine FSK- oder USK-Kennzeichnung fehlt.
Dass eine vergleichbare Regelung in Deutschland für Schriftmedien oder Musik nicht besteht, ist eine Gesetzeslücke. Das sei geschichtlich gewachsen, erklärt Michael Terhörst. "Der Gesetzgeber ist hier bisher nicht dazu übergegangen, eine weitergehende Kennzeichnungspflicht vorzunehmen. Die besteht in Deutschland tatsächlich nur für Filme und Videospiele." Für Comics und Mangas bedeutet das, dass sie hierzulande generell ohne Alterskennzeichnung erscheinen dürfen und nur nachträglich von der Prüfstelle indiziert werden können. Demnach sind Mangas für Minderjährige also entweder ganz oder gar nicht erlaubt. Eine Altersabstufung, die rechtlichen Bestand hat, gibt es nicht.
Zum Aufklappen | Historischer Exkurs: Jugendschutz mit der Brechstange in Sonneberg
Welche weitreichenden Folgen dieses "ganz oder gar nicht erlaubt" hat, zeigt ein Blick in die Thüringer Geschichte: Am 25. Juli 1995 durchsuchte die Thüringer Polizei im Auftrag der Staatsanwaltschaft Meiningen den Alpha Comic Verlag in Sonneberg aufgrund des Verdachts, gewaltverherrlichende, pornografische und den Nationalsozialismus verherrlichende Comics zu vertreiben. 150 Comics wurden bei der Razzia beschlagnahmt.
Sechs Jahre später wurde das Verfahren gegen den Comic Verlag gegen ein Bußgeld von 10.000 DM eingestellt. Justiziabel war am Ende nur eine Seite eines einzigen Comic-Heftes. Der Verlag musste aufgrund der Verfahrenskosten und der hohen psychischen Belastung der Inhaber schließlich Insolvenz anmelden.
Dabei wird relativ schnell klar, dass die Razzia vor allem durch ein großes Unverständnis gegenüber der Comic-Literatur getrieben war. So konfiszierte die Polizei etwa ein Plakat zur Graphic Novel "Maus" von Art Spiegelmann wegen eines Hakenkreuzes auf dem Cover. In dem weltbekannten und mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Comic verarbeitet der jüdische Künstler die Geschichte seiner Familie im Holocaust. Der Comic gilt bis heute als herausragendes Beispiel für die Aufarbeitung des Nationalsozialismus in der Literatur und wird beispielsweise auch in der Gedenkstätte Buchenwald verkauft.
Mangas sind mehr als bunte Bilderbücher
Eine andere Frage beim Thema Jugendschutz in Mangas ist die Art der dargestellten Szenen und Figuren. Diese wurde von den Betreibern des Comic Attack in unserer ersten Recherche aufgeworfen. "Es geht darum, dass Mangas keine bunten Bilderbücher sind, wie sie viele im Osten noch aus der DDR mit den Mosaik-Comics verbinden", sagt Tina Hasenstein. Darauf müssten Eltern viel mehr achten.
So würden Frauen in Mangas immer wieder mit kurzen Röcken und üppigen Busen dargestellt und in Actionmangas könnten auch mal abgetrennte Gliedmaßen durchs Bild fliegen. Auch der "Schlüpfer-Lüfter", der im ersten Artikel als Zitat herausgegriffen wurde, sei real. "Wir wollten für das Thema einfach sensibilisieren", sagt Henry Kießling. Daraus wollte er aber keinen Generalverdacht gegen alle Mangas ableiten. Vielmehr seien solche Darstellungen ein generelles Problem in der Gesellschaft, meint Kießling.
"Mangas sind eine schöne Sache: Einfach mal abtauchen, sich zwei Stunden aus der realen Welt ausklinken und lesen. Man kann als Kind seine Fantasie damit leben lassen: Sich selbst vorstellen, wie es wäre, Superkräfte zu haben. Da kann man nichts Schlechtes draus machen", sagt Kießling vom Erfurter Comic-Buchladen "Comic Attac". Auch Hasenstein meint, dass das nicht einseitig betrachtet werden darf. Mangas seien beispielsweise auch ein verbindendes Element für Kinder und Jugendliche: "Wenn sich Menschen vor dem Manga-Regal treffen, die sich nicht kennen, die haben immer ein gemeinsames Gesprächsthema. Das schafft auch Freundschaften", sagt Hasenstein. Darüber hinaus böten viele romantischen Mangas auch sehr fortschrittliche Beziehungskonzepte an und seien daher insbesondere bei einer queeren Leserschaft ein sehr beliebtes Medium.
Lost in Translation? Was der "Schlüpfer-Lüfter" über Japan verrät
Bleibt die Frage, wie Kinder und Eltern mit den manchmal doch schwierigen Darstellungen in Mangas und insbesondere in den ergänzenden Fanservices umgehen sollten? Sarah Kleen vom Planet Comic Café meint, dass diese Bilder immer im Gesamtkontext begriffen werden müssten. Oft seien es nur vereinzelte Bilder, die nur einen kurzen Moment in einer langen vielschichtigen Handlung darstellten. Auch der kulturelle Kontext spiele eine Rolle: "In Japan zeigst du deine Liebe nicht offensichtlich. Das heißt, wenn du Händchen haltend durch die Stadt läufst, ist das schon richtig krass", sagt Kleen. Daher komme es in den meisten romantischen Mangareihen, für die sich viele Teenager interessierten, häufig höchstens zu einem Kuss. "Derzeit lese sie selbst eine solche Mangareihe und wartet schon seit 16 Büchern auf genau diesen Moment."
Als Kommentar auf diese rigide japanische Sexualmoral kann übrigens auch der "Schlüpfer-Lüfter" in vielen (nicht in allen) Mangas verstanden werden. Oft wird der Umstand, dass ein Junge oder Mann den Schlüpfer eines meist gestürzten Mädchens oder einer Frau sieht, als Inbegriff einer für beide Seiten peinlichen Situation verstanden. Meist folgt in diesen Szenen eine Überreaktion wie extreme Scham (meist beim Jungen) oder ein großer Wutausbruch (meist beim Mädchen). Diese Szenen dienen aus literarischer Sicht oft als Exposition im dramatischen Handlungsbogen, da sie einen Konflikt zwischen den Figuren verursachen. Eine solche Darstellung pauschal als eine sexualisierende Darstellung von Frauen abzutun, greift daher zu kurz.
Dieses Beispiel zeigt, wie unterschiedlich die japanische und westliche Kultur sind und dass viele Feinheiten beim Blick durch die deutsche Brille verloren gehen. Sie sind sozusagen "Lost in Translation", um an dieser Stelle den Film zu zitieren, der wie kaum ein zweiter die japanisch-westlichen Widersprüche auf die Leinwand brachte. Dass Mangas Schmuddelhefte voll Sex und Pornografie sind, davon kann jedenfalls keine Rede sein.
MDR (ask)
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