75 Jahre Kriegsende in Arnstadt Die Besetzung Arnstadts und das Leben im Krieg
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Interview mit dem Arnstädter Friedemann Behr
Friedemann Behr ist Jahrgang 1933. Mit ihm sprachen wir über das das Jahr 1945, das Leben mit der nahenden Front, den amerikanischen Besatzern und den Verbrechen vor der eigenen Haustür.
Der Industriestandort Arnstadt hatte während des Zweiten Weltkrieges in zahlreichen Betrieben rund 3.000 Zwangsarbeiter beschäftigt. Im nahegelegenen Konzentrationslager Ohrdruf wurden zehntausende Menschen inhaftiert und umgebracht. Und im dazwischen befindlichen Jonastal wurde an geheimen Militär-Projekten gebaut. Damit war Arnstadt zweifellos ein bedeutendes Ziel der Alliierten. Friedemann Behr ist Jahrgang 1933. In einem Buch hatte er bereits 1988 Erinnerung an das Jahr 1945 aufgeschrieben. Mit ihm sprachen wir über das Leben mit der nahenden Front, den amerikanischen Besatzern und den Verbrechen vor der eigenen Haustür.
Herr Behr, vor den Toren Arnstadts wurden tausende Menschen inhaftiert und als Zwangsarbeiter gehalten. Was haben Sie davon mitbekommen?
Das erste Mal in den sechs Kriegsjahren kam ich mit KZ-Häftlingen in Verbindung, als wir Kinder früh Milch holen mussten. Als wir mit Kübeln durch den Milchhof liefen, haben wir plötzlich ganz armselige Gestalten gesehen, die im Winter mit der Spitzhacke versuchten, einen Graben zu ziehen. Die waren spärlich angezogen, total abgemagert, richtige Elendsgestalten. Uns ist das Blut stehen geblieben. Einer hat zu uns gesagt 'Salz, gib uns bitte Salz'. Da sind wir vor Angst davon gelaufen. Ein nicht zu vergessenes Erlebnis, wie sie mit den Füßen trappelten um sich irgendwie zu erwärmen.
Wer dachten Sie, sind diese Menschen?
Das konnten wir nicht einordnen. Das war die erste Begegnung mit den schlimmen Seiten der Nazizeit. Wir wussten bisher nur, dass jeder Angst vor dem KZ hatte. Wir dachten, das sind irgendwelche Verbrecher. Später erfuhr ich, das waren Häftlinge, die von Arnstadt nach Crawinkel eine Leitung legen mussten. Im Jonastal wurde ein geheimes Führerhauptquartier gebaut. Die SS hatte das so organisiert, dass das den Arnstädtern verborgen blieb. Die wurden mit Bussen oder Lkw vor der Stadt entladen und entlang kleiner Waldwege geführt, so dass die nicht gesehen wurden.
Dabei liegen Ohrdruf und das Jonastal so nah. Dort litten Menschen vor den Toren der Stadt. Warum wurde das in der Bevölkerung nicht besprochen?
Weil das lebensgefährlich war. Wer über das KZ gesprochen hat, musste damit rechnen, dass ihn jemand denunziert. Die Nazis hatten ein großes Spitzelsystem wie später die Stasi, man konnte nicht frei reden. Deswegen war das ein Tabuthema. In der Schule hatten wir gelernt, das seien Gefängnisse für Volksschädlinge. ‘Denkt mal, wenn die frei wären, was euch passieren würde - die würden euch umbringen‘, sagten die Lehrer. Und als Kind nahm man das natürlich ernst. Und auch das Jonastal war ein vollkommenes Geheimnis. Das war ein SS-Sperrbezirk. Niemand wusste, was da passierte. Und wer darüber sprach, wurde hart mit dem Tode bestraft. Die hatten ja auch Angst.
In den letzten Kriegsmonaten wurde Arnsstadt immer häufiger Ziel von alliierten Flugbombern. Die Versorgung in der Stadt wurde zunehmend schwieriger. Wie lebte es sich während des Krieges?
Als die Amerikaner gemerkt hatten, dass hier etwas Besonderes ist, wurden wir oft von Jagdbombern überflogen. Man musste dann eng an den Mauern Deckung suchen. Mit der Zerstörung des Bahnhofes brach schließlich die Versorgung zusammen. Es gab keine Geschäfte und kein Wasser mehr. Wir hatten auch kein Gas zum Kochen, aber zwei Drittel der Haushalte hatten Gasherde. Die Lebensmittel wurden knapp. Die Marken, die sonst vier Wochen reichten, sollten nun sechs Wochen reichen. In die Zeit kamen noch Plünderungen hinzu. Und weil es keine Kohlen gab, sind alle zu Trümmerhaufen gelaufen, vom Bürgermeister bis zum Armen, alle suchten etwas um zu Heizen
Zum Krieg gehört auch, dass wir praktisch drei Jahre Lücken in unserer Schulausbildung hatten. Drei von fünf Schulen waren Lazarette. In meiner Schule war das Reichsverkehrsministerium eingezogen. Arnstadt hatten nur noch eine Schule, da gab es nur noch Aufgabenverteilung für zu Hause. Ostern 1945 wurden wir in die Ferien geschickt - die gingen bis Oktober.
Die letzten Kriegswochen wurden für die Menschen in Thüringen lebensgefährlich. Wie erlebten Sie den Krieg, in dem Sie sich unmittelbar befanden?
Wir als Jugendliche kamen mit 13 schon zum Volkssturm. Wir bekamen zwar keine Waffen, aber wir sollten mit Hacken und Spaten Panzeruntergräben und Unterstände bauen. Doch als wir beginnen wollten, haben uns einige Soldaten nach Hause geschickt, weil wir zu klein waren. Wir waren enttäuscht. Für uns war der Krieg auch ein Abenteuer. Wenn die Soldaten mit ihren Panzern kamen, da haben wir gestaunt.
Am 6. Februar 1945 war in Arnstadt ein schwerer Luftangriff. Wir Schulkinder und Pimpfe mussten mit aufräumen. Viele Häuser waren einsturzgefährdet, die Leute wollten aber die Lebensmittel aus den Häusern. Also sind wir Kinder in die Häuser. Auf dem Rückweg blickten wir aus dem Fenster auf eine Sämerei. Weil es Frühjahr war, waren die Mitarbeiter nicht in den Keller geflüchtet, sondern oben bei der Arbeit geblieben. Plötzlich lagen da 14 verbrannte Frauen, die ersten Kriegstoten die wir gesehen hatten. Bis dahin war uns das erspart geblieben.
Welche Erinnerungen haben Sie an das Kriegsende und den Einmarsch der Amerikaner am 10. April 1945?
Aus Panzerkanonen wurde Arnstadt beschossen. Fünf Tage lang, immer nur jede halbe Stunde ein Treffer. An der Kirche und am Markt entstand großer Schaden. Die Arnstädter saßen im Keller. Wir haben das Kriegsende im Marienstift erlebt. Keiner traute sich nach oben, weil noch geschossen wurde. Nachmittags um 3 Uhr gab es die letzten Schüsse, dann marschierten die Amerikaner ein. Für den Großteil der Bevölkerung und für uns persönlich war es eine große Befreiung. Wir waren Pfarrersleute und mein Vater hatte Schwierigkeiten mit der Gestapo. Doch das Soldatenbild der Amerikaner war ein vollkommen anderes, als wir es kannten. Die Soldaten hatten keine Stiefel sondern Schnürschuhe mit weichen Krepp-Sohlen. Alle Bewohner mussten ihre Waffen und Fotoapparate an die Amerikaner abgeben. Und natürlich gab es Ausgangssperren, vormittags und nachmittags durfte man nur zwei Stunden raus, und sonst nicht.
Wie gestaltete sich die weitere Zeit unter der amerikanischen Besatzung?
Die Amerikaner hatten sich in unserem Haus einquartiert. Das waren alles junge Männer, die sich Späße erlaubten. Die kamen einem vor, wie dumme Jungen, haben Lampen angeschossen und unsere Kaninchen mit Käse gefüttert. Und wir durften nicht in unser Haus hinein. Die Amerikaner haben sich nicht so sehr um die Bevölkerung gekümmert, die hatten damals das Gebot, sich nicht zu verbrüdern. Wir Kinder haben die natürlich beobachtet, wie locker sie mit ihrem Vorgesetzten umgegangen sind. Und wir haben die für ihre Verpflegung beneidet. Wir Kinder riefen 'Cake Cake' und wollten Plätzchen haben. Zum Teil haben wir welche bekommen, zum Teil waren die auch mickrig. Die Amerikaner haben aber ermöglicht, dass wir unsere Schule anfangen konnten, für paar Tage. Dann kamen die Russen und haben es wieder verboten.
Buchtipp
"Mein Jahr 1945"
von Friedemann Behr
erschienen 1988 in der Evangelischen Verlagsanstalt Berlin
ISBN: 3-374-00523-3
Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Fazit vom Tag | 01. April 2020 | 18:00 Uhr