Hintergrund Der Bundeskanzler wird in Buchenwald vorgeführt
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05. März 2018, 10:37 Uhr
Nachdem Erfurt als Ort für das erste deutsch-deutsche Gipfeltreffen feststand, begannen in Ost und West die Vorbereitungen. Dabei fiel einem neuen Beamten im Bundeskanzleramt auf, dass nicht weit von Erfurt die KZ-Gedenkstätte Buchenwald liegt.
Schriftlich schlug er dem Kanzleramtschef vor: "Es würde meiner Ansicht nach besonders im Ostblock sehr beachtet und positiv aufgenommen werden, wenn der Bundeskanzler dort am Mahnmal Buchenwald einen Kranz niederlegen würde." Unterschrift: Guillaume. Es war der neue Top-Spion der DDR-Staatssicherheit im Kanzleramt, der nun für hektische Vorbereitungen in Ost und West sorgte. Brandt gefiel der Vorschlag. In einer KZ-Gedenkstätte konnte der Kanzler zeigen, dass der Widerstand gegen den Nationalsozialismus kein Privileg der Kommunisten ist. Zunächst ließ er jedoch vom Bundesnachrichtendienst prüfen, ob sein DDR-Gesprächspartner Willi Stoph "persönlich Verantwortung für Verbrechen in Buchenwald nach 1945 trägt". Die Prüfung blieb negativ. Für "Gräueltaten" in dem sowjetischen Speziallager sei Stoph nicht verantwortlich.
NVA soll "Deutschlandlied" spielen
Das Kanzleramt bat also die DDR, einen Besuch Brandts in der KZ-Gedenkstätte kurzfristig in das Programm aufzunehmen. Das SED-Politbüro stimmte dem Wunsch des Kanzlers zu. Die Genossen legten einen detaillierten Ablaufplan fest: "Die Kranzniederlegung ist so zu gestalten, dass Brandt wie jeder andere ausländische Regierungschef der DDR die gebührenden Ehrenbezeugungen erweist." Die NVA sollte am Glockenturm strammstehen und die Hymnen der Bundesrepublik und der DDR spielen. Mit ihrem Beschluss unterlief die DDR-Seite den strikten Wunsch des Kanzlers, seinen DDR-Besuch so schlicht wie möglich zu gestalten. Keinesfalls wollte Brandt den Eindruck erwecken, dass er als ein ausländischer Regierungschef zum Staatsbesuch in einem anderen Land weile. Im Gegenteil, der Kanzler wollte gerade das Verbindende zwischen den Deutschen so weit wie möglich betonen.
Doch die DDR ließ die Bundesregierung mit ihren Planungen für den Gedenkstätten-Besuch so lang wie möglich im Unklaren. Wenn bundesdeutsche Beamte nach dem geplanten Zeremoniell fragten, "sollte darauf hingewiesen werden, die Sache wird so protokollarisch durchgeführt, wie es üblich ist." Die Bonner Beamten hatten aufgrund des Zeitdrucks keine Chance, mit neuen Verhandlungen zu beginnen. Erst im Zug nach Erfurt erfuhr der Kanzler, dass DDR-Soldaten seinen Kranz in den Glockenturm tragen sollten. Der Kanzler lehnte dies ab und bestand darauf, dass seine Sicherheitsbeamten den Kranz niederlegen sollten.
Welcher Opfer wird in Buchenwald gedacht?
Lediglich den Aufdruck auf der schwarz-rot-goldenen Kranzschleife konnte das Kanzleramt selbst bestimmen. Der Kanzler entschied sich trotz anderslautender Vorlagen für den schlichten Text: "Willy Brandt. Bundesrepublik Deutschland". Mit dem Verzicht auf den Amtstitel konnte er den gewünschten niedrigen protokollarischen Status betonen. Mit dem Verzicht auf die Nennung der Opfer ging er sowohl Angriffen aus Ost wie aus West aus dem Weg. Ein eingeschränktes Gedenken an die Opfer der "nationalsozialistischen" Gewaltherrschaft hätte ihm im Westen die Kritik eingehandelt, dass er die Opfer des sowjetischen Speziallagers nach 1945 ignoriere. Ein allgemeines Gedenken hätte womöglich Vorwürfe aus dem Osten provoziert, dass er Kriegsverbrecher und Nationalsozialisten mit den Opfern der Hitler-Diktatur in einen Topf werfe.
Am Nachmittag des 19. März fuhr Brandt in einer Verhandlungspause mit DDR-Außenminister Otto Winzer in die Gedenkstätte. Die vereisten und verschneiten Straßen und Wege auf dem Ettersberg waren in den vergangenen Tagen von Hunderten Helfern freigeschippt worden.
Kurz nach 17:00 Uhr erreichte der Kanzler den Glockenturm. Nach Schilderung der SED-Zeitung "Neues Deutschland" wurde Brandt von Tausenden Weimarern mit Fahnen und Spruchbändern erwartet: "Man sieht in die Gesichter von Arbeitern, Gesichter, in die Leben und Kampf ihre Spuren gegraben haben, in die Gesichter von Mädchen und Jungen in den Anoraks der FDJ. Spontan klingen Arbeiterlieder auf – und es mag mehr als ein räumliches und zeitliches Nebeneinander der Erscheinungen sein, wenn gerade in diesem Moment die Zeile aufklingt: '… ewig der Sklaverei ein Ende …'"
Brandt wird belehrt
Am Glockenturm stand eine Ehrenformation der NVA. Soldaten marschierten voraus und trugen den Kranz des Kanzler. Am Rande stand eine Militärkapelle und spielte das "Deutschlandlied" und anschließend die DDR-Hymne. Brandt schwieg. Sein Gesicht, so notierten die Beobachter, erstarrte zur Maske. Nach der Kranzniederlegung wurde der Kanzler zum eigentlichen Lagergelände gefahren. Am Krematorium wurde Brandt, der ehemalige Widerstandskämpfer, vom Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Erfurt, Richard Gothe, belehrt, dass in der DDR der Faschismus ausgerottet sei - im Gegensatz zur Bundesrepublik, wo es noch immer Neonazismus gebe. Brandt schwieg zu der Rede. Nach ihrem Ende nickte er kurz und wandte sich ab.
Willy Brandt musste der Nationalhymne des sozialistischen deutschen Staates die Ehre erweisen. Zweitausend Menschen zeigten ihm, dass das ihre Hymne ist, ihr Staat, ihr Sozialismus, ihr Bekenntnis zum Schwur von Buchenwald.
Das Zeremoniell verärgerte nicht nur die bundesdeutsche Delegation, sondern wurde auch innerhalb der SED kritisiert. Die Altkommunistin Hanna Wolf beschwerte sich schriftlich bei SED-Chef Walter Ulbricht, dass man einen "der gefährlichsten und einflussreichsten Führer der internationalen Sozialdemokratie", den "Chef der aggressivsten imperialistischen Regierung in Europa", in die KZ-Gedenkstätte gelassen und ausgerechnet dort das "Deutschlandlied" gespielt habe.