Juliane Stückrad Nach umstrittenem Fest: Thüringer Ethnologin über Erinnerung an die DDR

05. Juni 2023, 16:12 Uhr

Eine als "DDR-Fest" angekündigte Veranstaltung in Friedrichroda hat Proteste und Diskussionen über die DDR-Erinnerungskulter ausgelöst. Die Ethnologin Juliane Stückrad ordnet die Debatte im Interview mit MDR THÜRINGEN ein.

Aufregung zu Pfingsten. Unter dem Titel "Seid bereit - das große DDR-Fest" wurde ein Musikfest in Friedrichroda angekündigt. Das sorgte in den sozialen Medien für Aufruhr. "Basteln mit den Pionieren" und "Fahnenappell" standen auf dem Programm. Nach den Protesten änderten die Veranstalter den Namen ihres Festes. Auch auf den MDR-Seiten beschäftigte der Fall etliche Kommentatoren. Offenbar elektrisiert viele Menschen das Thema DDR, insbesondere wenn es um Alltagsfragen und um unser Erinnern geht.

Im MDR-Interview äußert sich Juliane Stückrad. Sie ist promovierte Ethnologin und Volkskundlerin und arbeitet an der Volkskundlichen Beratungs- und Dokumentationsstelle für Thüringen. Sie hat darüber hinaus vor einiger Zeit ein Buch ("Die Unmutigen, die Mutigen") geschrieben, das von Menschen in Ostdeutschland innerhalb der sich verändernden Gesellschaft handelt und darüber, wie sie sich mit dem Wandel auseinandersetzen.

Das Buch "Die Unmutigen, die Mutigen"

In ihrem 2022 erschienenen Sachbuch beschreibt Juliane Stückrad die Lebenswelt und den Wandel in Ostdeutschland. Sie geht auf Demonstrationen, sitzt mit Dorfbewohnern am Tresen, besucht Familienfeiern und Gemeindefeste. Sie erzählt Geschichten über Mut und Unmut - Geschichten über die Vielfalt ostdeutscher Lebenswelten. Grundlage für das Buch waren jahrelange Feldforschungen ab Anfang der 2000er-Jahre. Das Buch weist stark autobiografische Bezüge auf. "Als Ethnologin begreife ich mich als Teil meines Forschungsfeldes", sagt Juliane Stückrad.



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MDR THÜRINGEN: Frau Stückrad, Sie sind Expertin für Bräuche und Traditionen. Wenn ein Fest unter dem Logo "Seid bereit - das große DDR-Fest" angekündigt wird: Was löst das bei Ihnen aus?

Juliane Stückrad: Bei mir persönlich löst es mehr als Irritation aus. Ich, als Juliane Stückrad, lehne das ab. Als Ethnologin weckt das Befremden über dieses Fest dann mein Forschungsinteresse.

Festkultur ist ja etwas, was im Gegensatz zur Alltagskultur stattfindet. Jetzt müsste ich als Ethnografin fairerweise erst einmal die Veranstalter befragen, welche Motivation sie hatten, dieses Fest zu organisieren. Das wäre wichtig herauszukriegen.

Insgesamt ist das Spielen mit der Symbolik des SED-Regimes schon ausgesprochen fragwürdig.

Juliane Stückrad

Wenn es nur darum ging, kommerziell etwas anzubieten, von dem man meint, dass es Ostdeutsche anspricht, dann zeugt es doch von einer großen Ahnungslosigkeit über die unterschiedlichen Facetten der DDR-Erinnerungskultur. Wenn es aber Leute sind, die meinen, sie machen da einen Riesenklamauk, dann würde ich fragen: Ist das Fest vielleicht eine Parodie zu DDR-Pionierorganisation und Appellen und diesen ganzen DDR-Organisationen?

Daher weiß ich das gar nicht so richtig, welche Motivation dahinterstand. Und insofern fällt es mir auch schwer, das wirklich zu beurteilen. Insgesamt ist das Spielen mit der Symbolik des SED-Regimes schon ausgesprochen fragwürdig.

Der Thüringer Landesbeauftragte für die Aufarbeitung der SED-Diktatur, Peter Wurschi, sagte auch, dass ihn der Titel irritiere. Im Netz überschlugen sich die Kommentatoren mit Meinungen, wie mit Begrifflichkeiten der DDR umzugehen sei, also was gut war, was nicht. Ist eine Erinnerungskultur Ihrer Meinung nach immer gleich politisch oder kann man der DDR nach 30 Jahren auch anders, "gelöster", begegnen, selbst wenn solche Begriffe wie "Fahnenappell" fallen?

Da muss man eben unterscheiden, woran erinnert man sich? Ich habe auch einige der Kommentare gelesen. "Auch ich hatte eine sehr glückliche Kindheit in der DDR" und solche Kommentare. Das ist eine sehr individuelle Erinnerungskultur und es gibt ja auch nicht die DDR-Erinnerung.

Paar mit Kleinkind auf den Campingplatz, 1972.
Jeder hat seine eigenen Erinnerungen an das Leben in der DDR. (Symbolbild) Bildrechte: IMAGO / Gerhard Leber

Die DDR-Gesellschaft war so vielschichtig und auch innerhalb der Biografien gibt es viele, viele Brüche, dass eigentlich jeder seine individuelle DDR mit sich herumträgt und jeder das Gefühl hat, dass seine Geschichte die wahre DDR-Geschichte ist.

Ich hatte auch eine sehr glückliche Kindheit, aber das lag nicht an der DDR, sondern das lag an meiner Familie, der es gelungen ist, mich vor vielen Zumutungen dieser Diktatur zu bewahren und diese von mir fernzuhalten. Insofern möchte ich eigentlich die Erinnerung an die DDR und die Erinnerung an meine Kindheit nicht vermischen, da differenziere ich. Andere tun das eben weniger.

Nehmen wir mal das Beispiel "Fahnenappell". Vielleicht haben manche da eine persönliche Erinnerung, etwa wie immer auf die hohen Stimmen der Pioniere die FDJler "Freundschaft" brummten. Für andere wiederum bedeutet Appell sofort Kennzeichen der Diktatur. Da frage ich mich, wie soll man sich denn "richtig" erinnern? Wie gelingt es einem, das Persönliche von dem, was man dann eben auch kritisch sieht, zu trennen?

Es gibt jetzt nicht "richtig" oder "falsch" erinnern. Ich finde, es gibt ein informiertes Erinnern und eine würdige Erinnerungskultur. Und diese Symbole der DDR-Massenorganisationen, das sind einfach auch Symbole einer Diktatur gewesen.

Ich habe ja nichts dagegen, wenn man sich mit sogenannten DDR-Spezialitäten wie Knusperflocken oder so einen eigenen kulinarischen Kosmos zurückholt und sich über den Geschmack an seine Kindheit erinnert. Aber über diese Symbolik finde ich das nicht würdig, auch angesichts des Unrechts, das in dieser Diktatur geschehen ist. Insofern finde ich eine Verwendung dieser Symbole wirklich ausgesprochen fragwürdig.

Nehmen wir einmal eine andere Diktatur: die Nazizeit. Gibt es da aus Expertensicht auch derartige Probleme, dass es schwerfällt, über schöne persönliche Erlebnisse in dieser Zeit zu berichten, weil die Umstände dieser Zeit schlimm waren?

Wir hatten vielleicht alle einmal die Diskussion mit unseren Großeltern. Meine Großmutter, die von den schönen Wanderungen mit dem BDM geschwärmt hat, und wir als Enkel da gesagt haben, das kann jetzt nicht wahr sein. Ja, es ist schön zu wandern, aber der Kontext, der darf nicht ausgeblendet werden. Das ist nun mal die Schwierigkeit dieser Erinnerungskultur.

Das ist unsere Aufgabe, damit immer wieder auch sehr reflektiert umzugehen. Das ist anstrengend und dass man da nicht immer Lust draufhat, das ist klar. Und dass damit jeder vielleicht auch aus seinem sozialen Hintergrund heraus anders umgeht, das ist so. Aber genau deswegen müssen wir miteinander darüber reden und auch gewisse Haltungen kommunizieren.

Zurück zur DDR-Erinnerung. Welche Rolle spielen dabei Menschen aus der alten Bundesrepublik? Sie haben natürlich nicht die DDR-Erfahrungen, also diese persönlichen Erlebnisse. Insofern überwiegt für sie das Bild, das wir heute in der Gesellschaft von der DDR haben - von einer Diktatur eben mit diesen Symbolen, Fahnenappell und so weiter. Und das könnte auch zu diesen Emotionen führen, die wir in den Kommentaren rund um die DDR finden, oder?

Da müssen wir jetzt ein bisschen unterscheiden. Wir haben einmal die Erinnerungen an die DDR, dann haben wir die Revolution und dann kommt die lange, lange Transformation, die bis heute andauert. Und in dieser Transformation gibt es gewisse Perspektiven, wie auf den Osten geguckt wird. Und da haben wir ja aktuell durch Dirk Oschmann diese Debatte, dass die Bewertung des Lebens in der DDR bis heute eben sehr stark vom westdeutschen Diskurs geprägt wird.

Die Ostalgie, die seit Mitte der 90er-Jahre entstanden ist, ist eine Reaktion auf die Transformationserfahrungen, von den Entfremdungserfahrungen, die viele gemacht haben, weil einfach der Wandel so gravierend in ihr persönliches Leben eingegriffen hat. Diese Erinnerungskultur ist dann von der Abwehrreaktion gegen den westlichen Blick überlagert worden. Dass man angefangen hat, seine Ostidentität wieder selber mehr wertschätzen zu wollen.

Die Ostalgie entwickelte sich parallel zur Entzauberung des Westens.

Juliane Stückrad

Da waren dann auf einmal die Ostprodukte wieder identitätsstiftend. Ich glaube, das ging los mit Vita Cola, mit diesem Slogan "Hurra, wir leben noch". Und da entwickelte sich etwas, was in gewisser Weise Popkultur geworden ist. Das hat eigentlich nicht mehr wirklich viel mit Erinnerungen an die DDR zu tun, sondern mit Reaktionen auf Transformation und ist eine Art von Verklärung, auch der eigenen Jugend.

Wir sind alle älter geworden in der Zeit. Und wer guckt nicht irgendwie wehmütig auf seine Jugend zurück? Das vermischt sich eben nun auch noch. 

Zumal ja jeder genau eine einzige, aber eigene Jugend hat. Sie erwähnten den Begriff der Ostalgie. Was ist das für Sie für ein Begriff? Ist Ostalgie auch erst später entstanden, als sich die Menschen hierzulande an die Zeit vor der Wende erinnerten?

Ich glaube, die Ostalgie entwickelte sich parallel zur Entzauberung des Westens. Der Westen, der von den meisten DDR-Bürgern - denken Sie bitte an die vollen Züge und den Jubel, als sie ausreisen durften - als großes Sehnsuchtsland verklärt worden ist. Da können auch die Westdeutschen nichts dafür, dass wir mit einem verklärten Blick dahin geschaut haben. Wir kamen dann irgendwann zwangsläufig auf dem Boden der Realität an.

Hinzu kamen diese wirtschaftlichen Übernahmen, die Massenarbeitslosigkeit. Das waren einfach Veränderungen, die enorm schnell liefen und Überforderung mit sich bringen mussten. Und dann ist es ganz klar, dass man sich an etwas vermeintlich Schöneres, Sichereres in der Vergangenheit klammert und festhält. Aus Nostalgie, also aus dieser Sehnsucht nach einer besseren Vergangenheit, wurde die Ostalgie, dieser Kult um Ostgeschichten. Es geht aber nicht immer nur um Verklärung.

Ein Leben, ein Alltag in einer Diktatur ist unglaublich komplex.

Juliane Stückrad

Ich sehe da auch eine ironische Auseinandersetzung mit den eigenen Diktaturerfahrungen. Ein Beispiel: 1990, zum "Tag der Deutschen Einheit", zum Wiedervereinigungstag, hat mein Freundeskreis eine Ost-Party gefeiert mit FDJ-Hemden und wir haben, glaube ich, das erste Mal in unserem Leben Ostrock gehört. Wir haben sonst ja nur Westmusik gehört, auf einmal Ostrock und wir haben das parodiert und das war eigentlich wie eine Art Befreiungsschlag: Wir haben jetzt die Macht über die Rituale der Diktatur.

Wir erheben uns darüber, wir lachen über das Schreckliche. Es war so eine Art Traumabewältigung. Das war aber keine Ostalgie in dem Sinne, sondern es war eigentlich ein Aufarbeiten der eigenen Diktaturerfahrung im Spiel mit deren Symbolik. 

Insofern, wenn wir diese Ostalgie aus westdeutscher Perspektive betrachten - dann kann das schon auf Ablehnung oder Unverständnis stoßen.

Es ist schwer zu verstehen. Ein Leben, ein Alltag in einer Diktatur ist unglaublich komplex. Und vielleicht ist es auch manchmal ein bisschen viel verlangt, dass Westdeutsche das in allen Details begreifen, warum man sich wie verhalten hat. Ich erwarte, ehrlich gesagt, jetzt nicht unbedingt von Westdeutschen, dass sie das alles verstehen können.

Die 50er- bis 70er-Jahre in Westdeutschland sind doch für mich auch nicht in allen Facetten nachvollziehbar. Wenn die Menschen vielleicht in sehr konservativen, religiösen Verhältnissen aufgewachsen sind, wo die Frauen lange auch nicht arbeiten gehen konnten.

Ich finde das jetzt nicht problematisch, sondern eher positiv. Wenn jeder seine Erfahrung darstellt, ohne zu erwarten, dass alles immer komplett nachvollzogen werden kann.

Vielleicht am Ende ein Blick auf einen weiteren Begriff: den der ostdeutschen Identität. Gibt es diese, etwa nach dem Muster: Wir haben alle das gleiche System erlebt und daraus speist sich ein Zugehörigkeitsgefühl? Spielt das vielleicht eine Rolle, sodass eben viele Menschen elektrisiert reagieren, wenn es um DDR-Erinnerung geht?

Hier in den neuen Bundesländern haben einfach viele Menschen im gleichen System gelebt, was einen gewissen ähnlichen Erfahrungshorizont mit sich bringt. Inwieweit sich die Leute dann alle damit identifizieren ist eine Frage, die offen bleibt. Ich würde jetzt nicht von einer ostdeutschen Identität reden, sondern von ostdeutschen Identitäten.

Meine Identität als Kind einer christlichen Familie ist sicherlich eine andere als die eines Kindes aus einer SED-Funktionärsfamilie. Also, wir haben unterschiedliche Identitäten und ich möchte eigentlich da auch nicht so mit reingenommen werden von den anderen, die sagen, wir sind jetzt Ossis und du hast auch unsere Identität. Nein, da möchte ich mich vorher erst über die Erfahrungen austauschen und auch über die unterschiedlichen Schlussfolgerungen, die jeder aus diesen Erfahrungen zieht.

Da sind wir schnell wieder bei den Emotionen und den sehr konträren Meinungen zur Frage: Ist es in Ordnung, solch ein DDR-Fest zu feiern?

Jeder ist Spezialist seiner eigenen Biografie. Jeder hat sozusagen seine eigene Wahrheit und es besteht die Gefahr, dass jeder seine Wahrheit für die richtige hält. Ich glaube, das müssen wir lernen, dass wir diese verschiedenen Wahrheiten einfach auch mal nebeneinanderstehen lassen.

Was aber eben nicht geht, ist, dass man die Machtsymbole einer Diktatur nimmt, um sie kommerziell irgendwie für sich auszunutzen und sie so verharmlost. Dafür ist die Geschichte der DDR zu ernst, als dass man das tun sollte.

Da Sie sich mit regionalen Bräuchen beschäftigen: Sind derartige Feste eher eine Popkultur, wie Sie sagen, denn eine Art Brauchtum?

Ein Brauch ist das nicht. Ein Brauch bezieht sich ja immer auf den Jahreslauf oder auf den Lebenslauf. Ein Brauch ist zum Beispiel die Jugendweihe, die ja auch noch sehr stark von den DDR-Jugenderfahrungen der Eltern und Großelterngeneration geprägt ist. Auch der Internationale Frauentag ist ein Brauch. Aber ein einzelnes Fest ist noch kein Brauch.

MDR (mm/caf)

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Fakt ist! aus Erfurt | 05. Juni 2023 | 22:10 Uhr

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