Migrationspolitik Flüchtlingsunterbringung in Thüringen: "Die Defizite aus der Vergangenheit holen uns jetzt ein"
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10. März 2024, 18:00 Uhr
Vor 100 Tagen, am 1. Dezember, wechselte die Zuständigkeit für die Aufnahme und Unterbringung von Flüchtlingen in Thüringen vom Justizressort zum Innenministerium. Was hat sich seitdem getan? Eine Bilanz.
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Im Oktober 2023 war die Migrationssituation in Thüringen eskaliert: In Suhl konnte die Erstaufnahmeeinrichtung (EAE) des Landes keine Menschen mehr aufnehmen; Thüringen musste deshalb von der bundesweiten Flüchtlingsverteilung abgemeldet werden. Die Landesregierung stand blamiert da.
Die kommunalen Spitzenverbände warfen Migrationsministerin Doreen Denstädt (Grüne) und der gesamten Landesregierung Versagen vor. Mehr noch: Sie forderten den Rücktritt der Ministerin. Dabei hatte sie erst neun Monate zuvor das Amt von ihrem Vorgänger Dirk Adams (Grüne) übernommen.
Aus Sicht der Kommunen hatte sich nichts verbessert, eher im Gegenteil. Seit Jahren forderten sie vom Land mehr Geld und unbürokratische Lösungen für die Unterbringung von Geflüchteten. Die Erstaufnahmeeinrichtungen des Landes waren chronisch überlastet, die Zustände in den Einrichtungen wurden selbst von der regierenden Linken als menschenunwürdig kritisiert.
Geplantes Landesmigrationsamt wurde nie umgesetzt
Gleichzeitig schaffte es die rot-rot-grüne Minderheitskoalition nicht, für ein seit Jahren diskutiertes Landesmigrationsamt eine parlamentarische Mehrheit zu organisieren. Die Behörde sollte die Zuständigkeiten bündeln.
Hinzu kam die Unzufriedenheit in der Bevölkerung. So waren laut einer MDRfragt-Umfrage aus dem Oktober vergangenen Jahres rund 90 Prozent der Teilnehmenden unzufrieden mit der Migrationspolitik.
Im November reagierte schließlich die Landesregierung und änderte die Zuständigkeiten und Verwaltungsabläufe beim Thema Migration: Zum 1. Dezember wurde das Innenministerium unter Georg Maier (SPD) zuständig für die Aufnahme und Unterbringung von Flüchtlingen. Maier sagte damals: "Es war erforderlich, dass wir das tun. Wir hatten hier eine Überschneidung von Verantwortlichkeiten und das hat der Sache immer wieder geschadet."
Maier: Jetzt kann durchregiert werden
Damit meinte Maier, dass jene Behördenmitarbeiter im Landesverwaltungsamt, die konkret die Erstaufnahme der Asylbewerber organisieren, dienstrechtlich dem Innenministerium unterstellt waren - aber bis dahin fachlich dem Migrationsressort. Jetzt, da Dienst und Fachaufsicht zusammengelegt seien, könne durchregiert werden, so Maier. Doch so einfach, das musste der Minister schnell lernen, ist es in Thüringen offenkundig nicht.
Die Ausgangslage
Die Verpflichtung, Geflüchtete aufzunehmen, regeln die Europäische Menschenrechtskonvention, die Genfer Flüchtlingskonvention und das Grundgesetz. Damit ein Bundesland nicht deutlich mehr aufnimmt als ein anderes, gibt es in Deutschland ein System, das die Menschen gleichmäßig verteilt, genannt Königsteiner Schlüssel.
Berechnet wird dieser Schlüssel mittels Bevölkerungszahl (ein Drittel) und den Steuereinnahmen (zwei Drittel). Danach muss Thüringen rund 2,6 Prozent der neu in Deutschland ankommenden Flüchtlinge aufnehmen.
Zum Aufklappen: Die Flüchtlingsunterbringung
In den Ländern kommen die Menschen in den Erstaufnahmeeinrichtungen (EAE) an und werden registriert. Dort beginnt auch das Asylverfahren, in dem geprüft wird, ob ein Anspruch auf den Flüchtlingsstatus oder politisches Asyl besteht. Anschließend verteilt das Landesverwaltungsamt die Menschen an die Landkreise und kreisfreien Städte. Ab diesem Zeitpunkt sind die Kommunen für die Unterbringung und Versorgung in Gemeinschaftsunterkünften oder Wohnungen zuständig. Zudem werden Leistungen bei Krankheit, Schwangerschaft und Geburt sowie sonstige Leistungen nach Maßgabe des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylblG) gewährt.
Zum Aufklappen: Was ist mit den ukrainischen Kriegsflüchtlingen?
Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine besitzen einen Sonderstatus. Sie müssen kein Asylverfahren durchlaufen, sondern bekommen unmittelbar nach Registrierung das Aufenthaltsrecht. Damit haben sie automatisch Zugang zum Arbeitsmarkt - und ein Anrecht auf Bürgergeld.
Das Problem
Die zentrale Erstaufnahmeeinrichtung (EAE) befindet sich in Suhl. Hier kommen die meisten Asylbewerber an, werden registriert und gesundheitlich untersucht. Hinzu kommen zwei Außenstellen in Eisenberg und Hermsdorf im Saale-Holzland-Kreis.
Der Komplex in Suhl ist für 800 Menschen ausgelegt, nur im Notfall sollten höchstens 1.400 hier unterkommen. Tatsächlich herrscht diese Notfalllage schon seit vielen Monaten, derzeit leben etwas über 1.000 dort. Immer wieder müssen Polizei und Feuerwehr ausrücken. Erst am vergangenen Donnerstag brannte es in der EAE, weshalb ein Gebäude vorübergehend evakuiert werden musste. 100 Bewohner wurden in die Außenstelle nach Hermsdorf gebracht.
Doch die Außenstelle in Hermsdorf - eine umfunktionierte Lagerhalle im örtlichen Gewerbegebiet - war ursprünglich nur als Notunterkunft geplant. Monatelang lebten dort 700 Männer auf engstem Raum in Doppelstockbetten ohne jede Privatsphäre. Aktuell sind es immer noch 600. Selbst Maier musste einräumen, dass die Zustände in Hermsdorf nicht akzeptabel seien.
Der Plan
Der Innenminister hatte deshalb schon im Dezember angekündigt, die Halle in Hermsdorf für den regulären Betrieb zu schließen und das Heim in Suhl deutlich zu entlasten. Ende Februar erklärte er, bis 2026 die EAE in Suhl zu schließen. Der Mietvertrag mit dem Eigentümer der Gebäude auf dem Suhler Friedberg werde nicht verlängert. "Man sieht, die Defizite aus der Vergangenheit holen uns jetzt ein. Man hätte viel früher Kapazitäten schaffen müssen", sagte er im März MDR THÜRINGEN.
Hessen hat 11.000 Plätze
Dass es anders geht, führt etwa das Nachbarland Hessen vor. Es hat 11.000 Aufnahmeplätze in den EAE geschaffen, auf die Bevölkerungszahl Thüringens umgerechnet entspräche dies einer Kapazität von 3.500 Betten. Die Einrichtungen seien aktuell nur moderat ausgelastet, sagte ein Sprecher des hessischen Sozialministeriums MDR THÜRINGEN.
Das Land habe "durch permanentes Monitoring des Zugangsgeschehens die Kapazitäten" so angepasst, dass immer "ein Puffer an Plätzen" existiere. "Als Lehre aus 2015 haben wir neben der Zentrale der Erstaufnahme in Gießen Außenstellen und Notunterkünfte, die bei Bedarf aktiviert werden können."
Neubau geplant
Doch wenn Hermsdorf kurzfristig ausgedient haben soll und Suhl in zwei Jahren schließt: Wo sollen die Flüchtlinge unterkommen? Der Innenminister hat einen Neubau angekündigt, die Finanzierung für den Bau stehe. Wo gebaut wird, will er nicht sagen. Die geplante neue Erstaufnahme soll mindestens 1.000 Menschen aufnehmen können.
Die Zwischenlösung
Und bis dahin? In der Zwischenzeit sollen provisorische Standorte die jetzigen Erstaufnahmen entlasten. So soll etwa das ehemalige Wismut-Krankenhaus in Gera als Erstaufnahmeunterbringung mit 170 Plätzen genutzt werden.
In Eisenberg, wo derzeit etwa 130 Menschen untergebracht werden, soll die Kapazität auf 400 steigen. Dafür werden in zwei Schritten bis zum Sommer Container aufgestellt. Die alte Frauenklinik in Jena soll bis zu 200 Menschen als Zwischenquartier dienen. Außerdem, das ist zumindest der Plan, will das Land noch mehr Menschen auf die Kommunen verteilen.
Die Kommunen
Doch dafür brauchen die Kommunen mehr Geld und Unterkünfte. "Im fehlenden Platz sehe ich mit die größten Probleme", sagte der Präsident des Thüringer Gemeinde- und Städtebundes, Michael Brychcy (CDU), MDR THÜRINGEN. Denn neben den Asylbewerbern hat Thüringen in den zwei Jahren seit dem Angriff Russlands Tausende ukrainische Geflüchtete aufgenommen: Insgesamt kamen 41.314 Ukrainerinnen und Ukrainer ins Land. Damit sind viele Wohnungen und Gemeinschaftsunterkünfte belegt.
"Wir sind optimistisch, dass wir nunmehr das Geld bekommen, das wir brauchen", sagt Gemeindebundpräsident Brychcy. Mit Maier habe sich die Kommunikation wieder verbessert. "Wir reden miteinander und wir erkennen auch an, dass das Innenministerium bemüht ist, Lösungen zu finden."
Auch wenn die Kritik der Kommunen an das Land milder geworden ist: Noch sind die Schwierigkeiten nahezu unvermindert da. An den Problemen mit der Flüchtlingsunterbringung habe sich seit dem Wechsel der Zuständigkeiten nicht übermäßig viel geändert, sagt Michael Brychcy.
"Ich habe das Gefühl, mit Lösungen tut sich das Land recht schwer. Gleichwohl ich natürlich anerkenne, dass das keine einfache Aufgabe ist, aber wir doktern da ja schon seit Jahren daran herum. Man hat das Gefühl, wir stehen auf einer Stelle."
Fazit
Letztendlich ist klar: Das Land braucht genügend stabile Erstaufnahmeplätze, die mittel- und langfristig zur Verfügung stehen. Die Kommunen brauchen angemessen viel Geld, um ihrer Verpflichtung, Geflüchtete aufzunehmen, nachkommen zu können. Dafür ist ein schnelles, großzügiges und unbürokratisches Handeln nötig.
MDR (caf)
Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Nachrichten | 08. März 2024 | 19:00 Uhr
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