Ost-West-Debatte 34 Jahre nach dem Mauerfall: Drei Leben in einem Land
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09. November 2023, 04:00 Uhr
Sie sind im Osten aufgewachsen, haben hier gelernt, studiert, Familien gegründet, sind in Ost und West zuhause. Ihre Wurzeln reichen in die DDR zurück, doch nach dem Mauerfall leben sie völlig unterschiedliche Leben. Auch 34 Jahre nach der Deutschen Einheit wundern sie sich, wie über sie und den Osten geredet wird. Johannes, Thu Tram und Konrad über ihr Leben nach dem Mauerfall 1989.
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Johannes Giesler: "Will nicht auf meine Herkunft reduziert werden“
- Johannes Giesler aus Dresden ist der Sohn einer Ost-West-Ehe und fühlt sich als Ostdeutscher. Er sieht bis heute Ungleichheiten zwischen Ost und West. Der Politikstudent kritisiert eine abschätzige Haltung gegenüber Ostdeutschen und kann nicht verstehen, warum bei hohen AfD-Wahlergebnissen im Westen immer nach der Politik, im Osten nach dem Wähler gefragt wird.
Sein und Haben als Grundhaltung im Westen
"Ein Bewusstsein für die Unterschiede zwischen Ost und West habe ich seit meiner frühesten Kindheit", sagt Johannes Giesler. Er ist 1996 in Dresden geboren und in einer Genossenschaftswohnung in Stadtteil Trachau aufgewachsen. "Bei den Familienbesuchen in Kerpen bei Köln ging es viel um Eigentum und Repräsentation, um das eigene Haus, das Auto. Das kannte ich aus dem Osten nicht." In der Heimat seines Vaters sei es verpönt gewesen, in Mietwohnungen zu leben.
Diese Mentalität bemerke er bis heute in Dresden-Pappritz, wo er mit seiner Freundin aus den alten Bundesländern lebe. Der Stadtteil sei geprägt von westdeutschen Beamten, die nach 1990 in neue Häuser gezogen seien. "'Die Menschen aus den Mietwohnungen' heißt es dort immer".
Abschätzige Bemerkungen in beide Richtungen
"Dass man sich darüber definiert, was man sich leisten kann, das kannte ich gar nicht". Umgekehrt habe es auch in die andere Richtung abschätzige Äußerungen gegeben. "Manchmal hieß es: 'Da ist die Frau zu Hause, die ist Hausfrau.' Das wurde wiederum im Osten richtig abschätzig gesagt."
"Alles wird in einen Topf geschmissen"
Johannes denkt viel über den Osten nach. Manches macht ihn wütend: "In den Medien ist Ostdeutschland immer negativ behaftet. Alles wird in einen Topf geschmissen. Alle sind rechts", erklärt er. "Natürlich fühle ich mich da angegriffen. Ich will nicht auf meine Herkunft reduziert werden. Die Ostdeutschen sind doch keine homogene Masse."
Zweierlei Maß bei AfD-Wahlergebnissen
Besonders regt ihn eine Ungleichbehandlung der Interpretation von Wahlergebnissen auf. "Erhält die AfD wie in Hessen oder Bayern eine hohe Zustimmung bei Wahlen, wird danach gefragt, was die Politik falsch gemacht hat. Erlangt die AfD viel Zustimmung im Osten, wird immer gefragt, was der Wähler falsch gemacht hat." Es werde mit zweierlei Maß gemessen.
Johannes kommt in Fahrt. Der Debattenraum sei von Klischees geprägt. Selbst bei einfachen Vergleichen: "Reiche Familien kommen immer aus dem Westen, arme Familien aus dem Osten", führt er aus. "Mich greifen diese Klischees krass an. Ich wünsche mir, dass wir das nicht mehr machen."
Wunsch: Mehr Repräsentanten und Deutungshoheit aus dem Osten
Der Politikstudent wünscht sich einen differenzierten Umgang mit den neuen Bundesländern: Einerseits gebe es bis heute viele Ungleichheiten, beim Einkommen, erst recht beim Vermögen, beim Erben oder auch bei der Rente. "Ostdeutschland ist ein empirischer Fakt. Der lässt sich nicht leugnen und ist auf viele Grafiken einfach zu erkennen."
Andererseits sei es wichtig, sich mit Respekt und Augenhöhe zu begegnen. "Ich wünsche mir mehr Repräsentanz und Deutungshoheit von Ostdeutschen."
"Aschenbrödel"-Test zu Weihnachten
Und privat, mit Ost-West-Beziehung und Herkunft aus einer Ost-West-Ehe, spürt er Unterschiede? "Natürlich", lacht Johannes. Doch das seien eher Anekdoten zum Schmunzeln und nennt Beispiele. "Nehmen wir 'Drei Haselnüsse für Aschenbrödel'. Diesen Film kennt fast jeder aus dem Osten", meint Johannes.
"Als ich Weihnachten mit meiner Freundin bei ihrer Familie feierte, wollten alle 'Drei Männer im Schnee' sehen. Hatte ich noch nie gehört, ist aber ein super Film. Letztlich können wir alle viel voneinander lernen."
Thu Tran Kim: "Als Kind wurde ich beschimpft, heute fühle ich mich respektvoll behandelt“
- Thu Tran Kim ist das Kind vietnamesischer Vertragsarbeiter. Mit ihrem Mann führt sie ein asiatisches Merchandising-Restaurant, erwartet gerade ihr zweites Kind und wird außerhalb Sachsens immer gefragt, ob Dresden "wirklich so fremdenfeindlich ist?".
Die Dresdnerin Thu Tran Kim ist als Kind vietnamesischer Vertragsarbeiter 1994 geboren worden. Für Thu Tran spielt Ostdeutschland keine Rolle mehr, auch wenn sie in ihrer Kindheit als "Fidschi" beschimpft worden ist. "Meine Eltern sind wie viele andere aus Vietnam gekommen, um hier zu arbeiten", erzählt sie.
Mit der Wende habe sich schlagartig alles geändert, die Regierungsabkommen liefen aus. Tausende Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeiter rutschten in die Illegalität. "Meine Mutter sollte abgeschoben werden und musste sich bei Freunden verstecken, ehe sie die offizielle Aufenthaltsgenehmigung bekam." Da hatte die Familie schon viele Jahre in Sachsen gelebt und gearbeitet. Bis heute leben ihre Eltern in Dresden.
Thu Tran Kim ist keine zimperliche Frau. Hochschwanger rockt sie ihre Spätschicht in dem vietnamesischen Restaurant in der Dresdner Altstadt. "Natürlich gehe ich arbeiten, sonst wird mir langweilig", sagt die 29-Jährige und balanciert Jasmin-Tee und Sommerrollen zu den Tischen. Wenn Menschen heute über Ostdeutschland und Ostdeutsche reden, denken wenige an Menschen wie Thu Tran Kim, die Töchter und Söhne von Einwandererfamilien der DDR.
"Fühle mich nicht als Ausländerin - nicht mehr"
Das Ende der DDR, die turbulente Nachwendezeit, die Transformation und Änderungen in allen Lebensbereichen: Ostdeutschland spielt für viele Menschen noch eine große Rolle. Auch für Thu Tran Kim? "Nein, ich fühle mich nicht ostdeutsch, das ist für mich nicht relevant", erklärt sie im Gespräch mit MDR SACHSEN. "Natürlich hört man viel, vor allem von älteren Menschen. Ich persönlich merke nichts. Ich fühle mich respektvoll behandelt und nicht benachteiligt, nicht mehr als Ausländerin."
Ehemann war Anfeindungen ausgesetzt
Für Thu Tran Kim gab es als Kind auch andere Zeiten: "Früher riefen sie mir 'Fidschi' hinterher oder machten sich über meinen Namen lustig." Selbst beim Fachabitur habe noch jemand "diskriminierende Sachen" und abfällige Bemerkungen gesagt. "Viele meinten es, glaube ich, nicht böse, es war Unwissenheit."
Sie weiß, dass sie Glück hatte. "Mein Mann kommt aus Neustadt in Sachsen. Er war regelrecht Anfeindungen ausgesetzt", erinnert sich die Dresdnerin. "Je kleiner die Stadt, desto diskriminierender sind die Leute. Je größer die Stadt, desto offener ist das gesellschaftliche Klima."
"Ich glaube, wir haben einen guten Ruf als Asiaten"
Thu Tran Kim erwartet in Kürze ihr zweites Kind. "Jetzt erfahre ich mehr Respekt, ich werde anders behandelt", resümiert die Dresdnerin. Das vietnamesische Restaurant nahe des Zwingers boomt, Gäste stehen Schlange am Eingang. Ihr Mann, dem der Laden gehört, schiebt ihr den Sportwagen mit ihrem ersten Kind zu, Ablösung.
Doch Thu Tran Kim lässt sich nicht so schnell aus der Ruhe bringen. Das hat sie als Mutter und Gastronomin gelernt. Das Thema beschäftigt sie weiter: "Ich würde sagen, dass wir als Asiaten einen relativ guten Ruf haben. Ich höre selten etwas Schlechtes. Es heißt meistens, dass wir viel arbeiten und sehr fleißig sind."
Viele schicken Geld nach Hause
Ist das so? "Die Vietnamesen arbeiten viel, in Vietnam spielt Geld eine große Rolle. Die Menschen sind teilweise sehr arm und haben große Familien. Das ist ein ganz anderer Lebensstandard", erklärt die 29-Jährige. Viele schickten bis heute Geld nach Hause. "Auch wir", erzählt Thu Tran Kim. "Mein Vater hat fünf Geschwister, meine Mutter sechs. Die können Unterstützung gut gebrauchen."
Ihre Eltern, früher Textilarbeiter, führten jahrelang einen eigenen Asia-Imbiss. "Wie wahrscheinlich sehr viele andere ehemalige Gastarbeiter auch", sagt die junge Frau lachend.
Von außen auf Pegida angesprochen
Wenn sie Freunde in anderen Teilen Deutschlands besucht, wird sie oft auf das rechtsextreme völkische Bündnis "Pegida" angesprochen. "'Ist Dresden wirklich so fremdenfeindlich?' Das ist die Frage, die ich am häufigsten höre. Das scheint sich eingebrannt zu haben". Grundsätzlich erlebe sie Menschen aus "dem Westen" offener und entspannter. Im Osten gebe es mehr Skepsis und Angst. Vielleicht liege es daran, dass in Dresden und Sachsen viele ältere Menschen leben?
Lebensmittelpunkt Dresden
Sachsen zu verlassen, daran haben Thu Tran Kim und ihr Ehemann gedacht. "Nicht wegen Pegida, wir wollten in eine größere Stadt mit mehr Möglichkeiten", sagt sie. "Es hat sich nicht ergeben. Jetzt haben wir unseren Lebensmittelpunkt hier. Damit sind wir glücklich."
Klar, verdiene man im Westen mehr, doch die Lebenskosten seien dort auch höher. Welche Wünsche bleiben? "Ich würde mir für die Ostdeutschen wünschen, dass sie offener sind", sagt Thu Tran Kim.
Konrad Winkler: "Bei Erstürmung der Stasizentrale dachte ich: 'Jetzt geht der Krieg los'"
- Konrad Winkler durfte sein Abitur nicht machen, war durch Zufall als Militärfahrer bei der Stürmung der Stasi-Zentrale in Dresden dabei und ist wegen der besseren Bedingungen in der Pflege für den Job seiner Frau Richtung Bodensee gezogen. Er will nicht wieder zurückkommen.
Konrad Winkler ist 1968 in Dresden geboren worden und wuchs in Mittweida, Schwarzenberg und Breitenbrunn im Erzgebirge auf. Weil Winkler in seiner Jugend gut im Judo war, wollte ihn die Nationale Volksarmee (NVA) der DDR gewinnen. "Kurz nach unserem Englischunterricht kam jemand vom Wehrkreiskommando. Ich musste ins Zimmer des Direktors und dann haben die mich beackert", erinnert er sich.
Mit seinem Vater übte Winkler daheim Ausreden und lehnte ab. "Die Retour ließ nicht auf sich warten", erzählt er. Er durfte kein Abitur machen, seine Lehrstelle wurde ihm weggenommen. Nur mit Hilfe seines Vaters kam er als Mauerlehrling unter.
Später probierte er es mit dem Fachabitur. "Plötzlich stand wieder jemand von der Armee da und fragte mich, ob ich Fahrer für den Militärstaatsanwalt in Dresden werden wolle." Winkler zögerte nicht. "Ich lernte dort Offiziere kennen, die ich menschlich sehr geschätzt habe und für moralisch integer hielt", erklärt er. Man könne sich nicht vorstellen, was dort hinter den Kulissen lief. Manche hätten mit Hilfe der Soldaten ihre Datschen und Eigenheime renoviert, dies sei beim Militärstaatsanwalt gelandet.
"Na, haste mitgekriegt? Die Mauer ist gefallen?"
Im Mai 1989 erreicht die erste Meldung einer Fahnenflucht seine Kaserne. "Die Nachrichten häuften sich, schließlich gab es eine Nachrichtensperre, die sowjetische Zeitung 'Sputnik' wurde eingestellt und wir durften die Kaserne nicht mehr verlassen." Winkler kann es heute kaum noch fassen.
"Am 10. November durfte ich auf Heimaturlaub nach Hause. Im Bus unterhielten sich ein paar Typen über Westprodukte. Ich dachte, was sind das für Angeber?" Zu Hause empfängt ihn sein Vater mit der Frage: "Na, haste mitgekriegt? Die Mauer ist gefallen." Konrad Winkler versteht auf einmal die Gespräche im Bus. "Der Mauerfall war komplett an uns vorbei gelaufen."
"Nehmen Sie sich eine MP!"
Einige Momente wird er nie vergessen: "Als das Neue Forum am 5. Dezember die Stasi-Zentrale stürmte, wurden wir dahin beordert. 'Nehmen Sie sich eine MP und ein Magazin, wir fahren jetzt in die Zentrale der Staatssicherheit'" hieß es. Winkler hat jeden Moment vor Augen. "Alle gingen in die Waffenkammer. Da dachte ich, 'jetzt geht der Krieg los'".
An dem Abend ging alles glimpflich aus. Später muss er wegen einer Fußball-Schulterverletzung ins Krankenhaus und kehrt nicht wieder zurück. Die Nationale Volksarmee der DDR war in Auflösung begriffen.
Bei Siemens-Schulungen Erstaunen über Ossi
Nach der Wende öffnet sein Vater ein Geschäft für Computer und Kopierer. Winkler steigt ein. Das ist die erste und einzige Zeit, in der er sich als 'Ossi' fühlt. "Ich besuchte längere Schulungen bei Siemens, alle waren erstaunt, dass jemand aus dem Osten solche teuren Weiterbildungen besucht." Später landet Konrad Winkler bei der Deutschen Bahn in Frankfurt am Main, für die er bis heute arbeitet.
"Der Mauerfall hat mein Leben extrem verändert. Ich hätte sicher auch in der DDR ein beruflich erfülltes Leben gehabt. Wenn es langweilig ist, liegt es ja meistens an dir selbst, weil die Ideen fehlen. Doch die Möglichkeiten waren nach dem Mauerfall ganz andere. Ich will nicht zurück – erst recht nicht vom freiheitlichen Aspekt. Damals habe ich die Malträtierungen mit Humor genommen und die herumschnauzen lassen. Doch wer weiß, wie lange ich das so geschafft hätte."
Umzug in den Westen
Fortan pendelt Winkler jede Woche von der Elbe an den Main. Seine Familie muss ohne ihn auskommen. Seine Frau sucht vergebens eine gute Arbeit in der Pflege. "Es gab nur 900 Mark, viel Stress und ständig Überstunden", erklärt Winkler. Irgendwann sei er mit seiner Frau nach Singen gefahren, sie habe sich im Krankenhaus vorgestellt. "Als ich sie abholte, kam sie aus der Tür und wedelte mit dem Arbeitsvertrag, sie könne in sechs Wochen anfangen."
Also siedelte die Familie mit zwei Kindern erst nach Singen dann nach Gottmadingen um. "Meine Frau ist glücklich, ich bin glücklich, Ost-West-Zuschreibungen haben wir hier nie gespürt." Im Vergleich zu Sachsen seien die Menschen in Baden-Württemberg offener. "Wir bleiben auf jeden Fall hier und kommen nicht wieder zurück. Auch meine Frau sieht das so. Zweimal im Jahr fahren wir nach Dresden."
Bilanz: Mehr Ostdeutsche in Führungspositionen
Konrad Winkler ist heute Senior IT-Berater und kümmert sich um Leit- und Sicherungstechnik. Dafür arbeitete er auch mit Dresdner Start-Ups zusammen. "Diese berufliche Entwicklung hätte ich im Osten nicht machen können. Ich konnte mich fachlich gut weiterentwickeln bei sehr guter Bezahlung, das gab es damals im Osten nicht", resümiert Winkler.
Manches in der Ost-West-Debatte finde er überdenkenswert. "Führungskräfte kommen selten aus dem Osten. Die Kritik daran, kann ich verstehen."
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Dienstags direkt | 10. Oktober 2023 | 20:00 Uhr