
Bildungstool mit KI-Hilfe Ein Avatar vom Küchentisch in die HHL-Hörsäle in Leipzig
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23. März 2025, 09:00 Uhr
Wer jemals in einem Saal oder Klassenzimmer eine Frage stellte, die höchstens mittelklug klang, kennt wohl das Gefühl der Blamage. Das können sich HHL-Studierende in Leipzig jetzt ersparen - zumindest bei einigen Themengebieten. Denn ein KI-gestützter Avatar gibt Auskunft zu allen Themen, die Professor Meynhardt jemals veröffentlicht hat. Der virtuelle Prof namens Timotar erklärt alles, was der echte womöglich schon wieder vergessen hat.
- Technikbegeisterte Tochter und Vater erstellen gemeinsam einen Avatar, der KI nutzt.
- Studierende sprechen zwangloser mit dem virtuellen Professor und trauen sich mehr zu fragen.
- Alter Ego ruft Gefühle hervor und wirft existenzielle Fragen auf.
Als Timo Meynhardts Tochter eines Abends zu ihm sagt: "Papa, stell' Dich mal hier hin, Hände können in den Hosentaschen bleiben. Wackle mal mit dem Kopf, kurz nicken, ich filme das", hat sich Meynhardt nicht viel dabei gedacht. Seine Tochter beschäftigt sich in ihrer Freizeit nach dem Medizinstudium mit Digitalisierung der Lehre. Sie bittet ihren Vater auch "einige sinnlose Wörter zu sagen wie: "Gurke, Banane, Montag, Dienstag." Das nimmt sie auch eine Minute lang auf.
"Wie kann ich Ihnen helfen?"
Ein Dreiviertel Jahr später haben Tochter und Vater daraus, mithilfe Künstlicher Intelligenz und rund 200 hochgeladenen Texten aus der Feder des Vaters, der Psychologe und Betriebswirtschaftler ist, einen Avatar entwickelt. Die virtuelle Kunstfigur spricht wie Timo Meynhardt und weiß alles, was er in den vergangenen 20 Jahren geforscht und veröffentlicht hat zu den Themen Gemeinwohl, Führung und Psychologie. Der Avatar kann Fragen dazu in Zusammenhänge setzen und in 30 Sprachen beantworten.
Einen Namen hat der virtuelle Professor auch: Timotar, in Anlehnung an Timo Meynhardts Vornamen. "Heute denke ich manchmal: Ich hätte mir bei den Aufnahmen damals wenigstens die Haare kämmen können", sagt Meynhardt schmunzelnd übers Vater-Tochter-Projekt, an dem die beiden weiterarbeiten, neue Texte eingeben und Funktionen verbessern wollen.
Dass sein Kopfwackeln unnatürlich und auch ein wenig lustig wirkt, weiß Meynhardt. Ändern will er es nicht. "Das ist kein Fehler, es ist Absicht. Ein Avatar darf nicht zu menschenähnlich wirken. Er macht sonst Angst."
Ostdeutscher Erfindergeist am Küchentisch
Meynhardt kennt keine Professoren mit eigenen Avataren - weder in Deutschland, noch in Europa. Der 52-Jährige rechnet aber mit Nachahmern. "Unser Vorsprung ist begrenzt, vielleicht noch ein halbes Jahr." Gleichzeitig freut er sich, dass seine Entwicklung nun mit Leipzig verbunden ist. "Im Westen wird so etwas mit Geld gelöst, im Osten mit Pfiffigkeit", meint der Hochschulprofessor, der ursprünglich aus Rudolstadt kommt.
Gute Quelle und Angstnehmer
Studierende nutzen den Avatar zum Lernen und Vorbereiten auf Vorlesungen, erzählt Meynhardt. Das bestätigt Friedrich Teikemeier, der im 1. Jahr Mangement mit der Vertiefunsgrichtung Finanzen studiert. Anfangs seien die Mitstudierenden skeptisch gewesen, weil sie es ungewohnt fanden, ihren Professor als Bewegtbild zu sehen. Bei ChatGPT laufe ja das meiste in schriftlicher Form. Mittlerweile traue er sich, den Avatar auch inhaltliche Sachen zu fragen, die er sich im Hörsaal vor 40 Leuten nicht getraut hätte. "Es gibt ja Fragen, die vielleicht als dumme Fragen rüberkommen."
Mit dem Avatar ist es ein bisschen entspannter. Man kann freier sprechen und muss nicht darauf achten, wie man auf den Professor oder die Professorin wirkt.
Management-Studentin Miriam Werner nutzt den virtuellen Professor als Wissensquelle zur Klausurvorbereitung und für Projekte, weil der Avatar auf die komplette Forschung Meynhardts zurückgreifen könne. "Die Gedanken für die Aufgaben macht man sich ja noch selbst und wie man die angehen könnte." Gut findet sie, dass der Avatar so realistisch wirke und viele Rückfragen stelle, die sie zum Nachdenken anregten.
Keine Prüfungstipps: Der Avatar hält dicht
Die Studierenden der HHL können den Avatar seit diesem Jahr nutzen. Wie er nützt und akzeptiert wird, begleitet die Hochschule wissenschaftlich und will es später auswerten. Fest steht schon jetzt: Timotar verrät den Studierenden keine Prüfungsfragen oder Zensuren. Das hatten Miriam Werner und Friedrich Teikemeier auch gleich getestet. "Nein, er weicht aus und bleibt bei den Fachthemen", sagen sie.
Dumme Fragen stellt man eher einer Maschine als im Raum.
Regeln für Bruder im Geiste
"Sie können mit ihm über alles reden, so lange es Bezug zu meinen Forschungen hat. Er ist höflich. Er versucht sehr sachlich zu bleiben, versucht nur zu antworten, wenn er eine Antwort hat. Er hört auf zu antworten, wenn es politisch wird", erklärt Meynhardt. Seine Tochter und er haben dem Avatar "klare Regeln gegeben, auch Höflichkeitsregeln. Wir haben lange am Charakter des Timotars gearbeitet, bis er in etwa dem entspricht, wie ich mich fühle und mein Alter Ego auch Züge trägt, die ich an mir gern sehe."
Sei höflich, bedanke dich, frage zurück, halte dich zurück.
Wie sehr die Figur das echte Leben beeinflusst, "hätte ich mir nie vorstellen können", gibt Timo Meynhardt zu. Er meint damit, dass er dem Avatar einen eigenen Willen unterstellt und Gefühle für ihn entwickelt: "Dass ich versuche ihn zu trainieren und mit ihm spreche, dass ich sauer bin, wenn er meine Korrekturen nicht sofort übernimmt, ich traurig oder glücklich bin, wenn er getadelt oder gelobt wird oder dass sich Leute nicht für mich, sondern für Timotar interessieren", zählt Meynhardt auf.
Verunsicherung durch grundsätzliche Fragen
All das führe ihn auch zu existenziellen Fragen wie: "Was macht das mit mir? Welche Rolle muss ich erfüllen? Welche Aufgaben habe ich noch? Was passiert mit der Lehre? Werde ich ersetzt?" Angst machten Meynhardt diese Fragen nicht. Denn es gebe so viele Anwendungsmöglichkeiten und Chancen zu entdecken. Kollegen rät er zu mehr Mut: "Es nützt nichts, am Rand zu sitzen. Lieber rauf aufs Spielfeld und Erfahrungen machen, auch wenn es Verunsicherungen gibt."
Diese Verunsicherung spüre der Professor auch, weil viele Fragen zum Bildungsformat offen seien - wie etwa die, was passiert, wenn der Anbieter in den USA pleite geht, der die Videoseite betreibt, über die der Avatar läuft? "Ist Timotar dann tot? Kann ich ihn vererben? Und was, wenn er mal Urlaub macht?"
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN | MDR SACHSENSPIEGEL | 18. März 2025 | 19:00 Uhr
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