Inklusion "Knusper, Knusper" in Leipzig: Theater für Sehende und Nicht-Sehende
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03. Dezember 2024, 16:01 Uhr
Der 3. Dezember ist der internationale Tag der Menschen mit Behinderung. Passend dazu erprobt das Theater der jungen Welt (TDJW) in Leipzig, wie inklusives Theater funktionieren kann. Das Stück "Knusper Knusper" schafft einen Erfahrungsraum für Sehende und Nicht-Sehende gleichermaßen. Annika Jakobs ist als Access-Dramaturgin für die barriefreie Ästhetik zuständig. Sie ist selbst sehbehindert und hat das Stück mit konzipiert. MDR KULTUR hat mit ihr u. a. darüber gesprochen, worauf es beim Theater für alle ankommt.
MDR KULTUR: Welchen Ansatz verfolgt "Knusper Knusper" am Theater der Jungen Welt?
Annika Jakobs: Wir haben versucht, die Inszenierung so einzurichten, dass sie für sehende, sehbehinderte und blinde Menschen gleichermaßen funktioniert. Das heißt, wir haben mit einer sehenden und einer sehbehinderten Dramaturgin gearbeitet. Und wir hatten auch Probegruppen aus verschiedenen Kindergärten und Schulen bei uns. Da waren auch sehende, sehbehinderte und blinde Kinder dabei.
Wir haben "Hänsel und Gretel" ausgewählt, weil das an sich schon sehr "viel-sinnlich" ist. Es gibt ja auch den Ansatz, dass man den ganzen Theaterraum dunkel macht und dass keine Person etwas sieht. Das war nicht unser Ansatz, sondern wir bestärken alle Sinne. Das heißt, es gibt durchaus etwas zu sehen für Leute, die was sehen wollen, aber es gibt auch sehr viel zu hören, und vor allem gibt es eine starke taktile Ebene. Es wird ganz viel angefasst.
Wir bestärken alle Sinne.
Was und wie kann man denn da konkret anfassen?
Wir arbeiten mit verschiedenen Perspektiven und Wahrnehmungen, indem wir zum Beispiel eine Rundum-Bestuhlung haben und die Leute im Kreis mit auf der Bühne sitzen und Teil des Waldes von Hänsel und Gretel sind. Das macht es auch leichter für die beiden Spieler*innen, näher an das Publikum heranzukommen. Wir haben zum Beispiel als Teil des Bühnenbildes kleine fahrbare Tischchen, auf denen verschiedene Dinge liegen, und die können dann an die einzelnen Publikumsinseln herangefahren und angefasst werden.
Und weil wir eine starke Hördramaturgie haben und es ganz viel darum geht, Geräusche zu erzeugen, wird das Publikum auch daran beteiligt, diese Geräusche selbst mitzugestalten und sie darüber zu verstehen. Wenn man nicht sieht, wie das Geräusch erzeugt wird, dann hört man nur das Geräusch. Und dadurch, dass das Publikum selber mitmachen kann, erklärt sich dann auch diese ästhetische Ebene.
Was braucht inklusives Theater für junges Publikum?
Es braucht vor allem eine Offenheit, Regeln und Normen, die gesetzt zu sein scheinen, für das Theater zu befragen. Und ich glaube, dass Theater für junges Publikum ein total dankbarer Spielort ist, weil wir da oft mit Zielgruppen arbeiten, die das erste Mal ins Theater kommen oder einfach noch nicht voraussetzen: So und so funktioniert Theater, und so und so muss ich mich da verhalten. Es geht darum, zu überlegen: Was funktioniert für welche Person und für welche eben auch nicht? Und was müssen wir daran ändern?
Das klingt nach einem Theater, das auch das Theater für Sehende noch sehr bereichern kann.
Auf jeden Fall. Weil es neugierig macht, andere Sinne mehr zu nutzen. Und ich habe jetzt auch öfter von Besuchenden das Feedback bekommen, dass sie total Lust hatten, teilweise die Augen zuzumachen und das Stück mehr übers Hören oder übers Anfassen zu erleben. Es gibt in unserer Gesellschaft einen starken Fokus auf den Sehsinn und auf den Hörsinn, und andere Sinne werden – zum Beispiel in der Schule – gar nicht so bespielt.
Wenn ich in den Wald gehe, dann gibt es da nicht nur viel zu sehen, sondern auch viel zu hören und zu riechen.
In Schulen, die zum Beispiel einen Förderschwerpunkt "Sehen" haben, wird der Tastsinn schon viel früher und ganz anders geschult. Und ich glaube, das in einem Theaterraum aufzumachen, ist eine totale Bereicherung. Auch diese Erfahrung dann vielleicht mit in den Alltag zu nehmen und zu merken: Wenn ich in den Wald gehe, dann gibt es da nicht nur viel zu sehen, sondern es gibt auch viel zu hören und zu riechen und vielleicht auch zu schmecken in der Luft.
Mehr Informationen zu "Knusper Knusper"
"Knusper Knusper"
Materialtheater für neugierige Sinne | Frei nach Hänsel und Gretel der Brüder Grimm
Regie und Bearbeitung: Rike Schuberty
Theatervermittlung: Veronique Nivelle
Dramaturgie: Maria Obermeier
Access-Dramaturgie: Annika Jakobs
Besetzung: Clara Fritsche, Anso Dautz
Länge: 50 Minuten
Ort: Theater der Jungen Welt Leipzig
Nächste Vorstellungen: 4. Dezember um 10:15 und 13:30 Uhr
Sowie weitere Termine im Dezember
Quelle: MDR KULTUR (Julia Hemmerling), Redaktionelle Bearbeitung: lm
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 03. Dezember 2024 | 08:10 Uhr