Johnson ohne Johnson Enttäuschende Inszenierung von "Jahrestage. Zweiter Teil" am Schauspiel Leipzig
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04. März 2024, 15:34 Uhr
Uwe Johnsons monumentalen Roman "Jahrestage" für die Bühne zu adaptieren – das hat sich das Leipziger Schauspiel vorgenommen. Nach dem ersten Teil vor einem Jahr hatte am Samstag der zweite Teil Premiere. Was der Inszenierung fehlt, sind Uwe Johnson und sein Roman. Das grenzt an einen Etikettenschwindel, meint schwer enttäuscht unser Kritiker.
- Das Schauspiel Leipzig zeigt den zweiten Teil ihrer Bühnenumsetzung von Uwe Johnsons Roman "Jahrestage" als "Erinnerungsraum".
- Das Weglassen des Romaninhaltes bei dieser Inszenierung empfindet MDR KULTUR-Kritiker Matthias Schmidt als Etikettenschwindel.
- Der inhaltlich unmotivierte Auftritt einer Band verstärkt seinen Eindruck eines "irgendwie verkorksten Abends".
Man muss in diesem Fall tatsächlich etwas ausholen: Der erste Teil von "Jahrestage" war kein Publikumserfolg, die bislang letzten Vorstellungen fanden vor fast leerem Haus statt. Also hat sich Regisseurin Anna-Sophie Mahler wohl gedacht, thematisieren wir das doch und gehen dieses Mal anders heran.
Die Inszenierung findet auf der Hinterbühne statt und zu Beginn stehen die Schauspieler mit dem Rücken zum Publikum – hinter dem geschlossenen Vorhang. Ab und zu schauen sie unauffällig in den Zuschauerraum, um schließlich zu verkünden: Beim letzten Mal waren es noch 36 Zuschauer, dieses Mal sei kein einziger da. Für Schauspieler ein Supergau!
Ein schöner, komischer Theater-Schreckmoment. Es wird geschmunzelt. Die Reaktion darauf ist aber nicht etwa, die noch fehlenden zwei Bücher (900 Seiten) anders zu inszenieren, sondern sie einfach gar nicht zu inszenieren.
Was, bitte, ist ein "Erinnerungsraum"?
Stattdessen soll ein "Erinnerungsraum" zu erleben sein, was trendig klingt, aber leider nur wenig mit dem Autor und dessen Werk zu tun hat. Die Idee besteht darin, dass sich die Schauspieler persönlich an die Themen annähern, die für Johnsons Roman wichtig sind.
Was für sie "Heimat" ist, zum Beispiel. Gesine Cresspahl, Hauptperson im Original, hat mehrfach ihre Heimat verlassen müssen, erst Mecklenburg, dann auch die Bundesrepublik – das ist ein zentrales Thema. Davon ist in dieser Inszenierung keine Rede.
Das wirkt fast ein bisschen trotzig: Euch hat der erste Teil nicht interessiert? Dann lassen wir den zweiten ganz weg. Wir erleben also vier Menschen, die über ihr Leben nachdenken, die ihre Familiengeschichten erzählen, die dabei an Keyboards stehen (wie die Band Kraftwerk) und ein Musikstück improvisieren, die auf einen Boxsack eindreschen, der in der Bühnenmitte baumelt, wobei ab und zu mal erwähnt wird, das sei ja auch wie bei Gesine, irgendwie. Was man so macht, wenn es keine Handlung gibt. Aber das war’s dann auch schon mit Uwe Johnson.
Sehenswerte Momente
Um mal das Positive zu erwähnen: Die Einblicke, die die vier Schauspielerinnen und Schauspieler auf der Bühne in ihre persönlichen Lebensgeschichten geben, die Geschichten ihrer Familien, die sie erzählen (jeweils in Großaufnahmen auf den eisernen Vorhang projiziert), das sind große, tolle Theater-Momente.
Andreas Keller berichtet davon, wie er mit unserer gespaltenen Gegenwart fremdelt. Bettina Schmidt erzählt, wie ihre Familie 1945 aus Danzig nach Lübeck kam, Denis Petković, wie seine Mutter 1969 ganz alleine aus Jugoslawien nach Deutschland floh – intime Erinnerungen, bereichernde Themen. Wunderbar!
Ein Etikettenschwindel
Aber den Johnson ganz wegzulassen, weil er – so wird es anfangs tatsächlich gesagt – in Leipzig unbekannt sei, grenzt an eine Arbeitsverweigerung der Regie. Wenn ein Abend "Jahrestage" heißt, aber weder der Autor noch seine Inhalte vorkommen, wenn vor allem seine großartige Sprache fehlt, ist das im Grunde ein Etikettenschwindel. Man fragt sich, für wen das gemacht ist. Wer den Roman kennt – wird nicht bedient. Wer ihn nicht kennt – ist völlig verloren.
Mein Eindruck ist, dass dieser zweite Teil etwas inszeniert, was dem ersten Teil gefehlt hat, und dass diese Szenen, in den ersten hineinmontiert, durchaus hätten aufgehen können. Zumindest zweimal werden demnächst beide Teile an zwei Tagen nacheinander gespielt, da wird man es zumindest ahnen können.
Ein Kurzkonzert als Lückenfüller
Für sich genommen aber ist dieser zweite Teil eigentlich eine Zumutung. Die letzten 20 Minuten beispielsweise sind ein Konzert mit Maria Schneider, Künstlername Mascha Juno. Sie spielt Schlagzeug und singt. Dazu Martin Wenk an Trompete und Gitarre und Michael Wilhelmi am Klavier.
Das ist musikalisch ganz bezaubernd und zudem ein schönes Bild, wie sie im Zuschauerraum auf einer Art Erdhügel musizieren, kraft- und lustvoll – aber was es mit Johnson zu tun hat, erschließt sich nicht. Es wirkt, als sei noch Zeit übrig gewesen und man hätte wenigstens 90 Minuten füllen wollen. Was auch nicht geklappt hat: Nach 85 Minuten ist Schluss mit diesem irgendwie verkorksten Abend.
Quelle: MDR KULTUR (Matthias Schmidt), Redaktionelle Bearbeitung: op
Die Aufführung
"Jahrestage. Zweiter Teil"
Erinnerungsraum zu Uwe Johnsons "Jahrestage"
Ein Projekt von Anna-Sophie Mahler und Ensemble
Regie: Anna-Sophie Mahler
Bühne & Kostüme: Katrin Connan
Mit Thomas Braungardt, Andreas Keller, Denis Petković, Bettina Schmidt
Termine:
2. März, 19:30 Uhr | Hinterbühne (Premiere)
9. März, 19:30 Uhr | Hinterbühne
16. März, 16:00 Uhr | Hinterbühne
6. April, 19:30 Uhr | Hinterbühne
11. April, 19:30 Uhr | Hinterbühne
8. Mai, 19.30 Uhr |
Hinterbühne
"Jahrestage. Erster Teil" und "Jahrestage. Zweiter Teil" sind auch an zwei Tagen in Folge zu erleben: am 15. und 16. März sowie am 5. und 6. April 2024.
Schauspiel Leipzig
Bosestraße 1, 04109 Leipzig
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 04. März 2024 | 08:40 Uhr