Aufarbeitung "Tag X": Polizei richtet Ermittlungsgruppe ein, Kritik an Einsatz wächst
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09. Juni 2023, 10:34 Uhr
Ein Urteil und seine Folgen: Auch über eine Woche nach der Verurteilung der Linksextremistin Lina E. und weiterer Täter beschäftigen die Nachwirkungen Polizei, Demonstrierende, Anwohner, Politik und Medien. Wegen der Ausschreitungen bei den Protesten gegen das Urteil in Leipzig hat die Polizei eine eigene Ermittlungsgruppe eingerichtet. Rund 100 Straftaten sind bisher registriert, derzeit neun Menschen in Untersuchungshaft. Die Kritik am Einsatzverhalten der Polizei reißt unterdessen nicht ab.
- Die Leipziger Polizei will mutmaßliche Straftaten bei den Ausschreitungen am vergangenen Wochenende mit einer Ermittlungsgruppe aufarbeiten.
- Die Kritik am Einsatz - vor allem rund um die Einkesselung Hunderter Menschen - sorgt weiter für deutliche Kritik.
- Laut einer Umfrage sieht eine Mehrheit der Deutschen den Linksextremismus inzwischen als Gefahr an.
Nach den linksextremistischen Ausschreitungen in Leipzig am vergangenen Wochenende hat die Polizei eine Ermittlungsgruppe eingerichtet. Die gut 20 Beamtinnen und Beamten ermitteln derzeit zu bisher rund 100 Straftaten, wie die Polizeidirektion Leipzig am Donnerstag mitteilte. Man habe Handys in dreistelliger Zahl beschlagnahmt und bei 1.040 Personen die Identitäten festgestellt.
Über 50 Beamte verletzt
Darüber hinaus gab die Polizei weitere Informationen zu den Krawallen und dem Einsatzgeschehen bekannt. Über das Einsatzwochenende seien 51 Polizisten verletzt worden. Gegen insgesamt zwölf Demonstrierende sei Haftbefehl erlassen worden, unter anderem wegen tätlichen Angriffen auf Vollstreckungsbeamte, versuchter gefährlicher Körperverletzung oder schweren Landfriedensbruchs. Drei davon seien gegen Auflagen außer Vollzug gesetzt worden.
Am Donnerstag war zudem bekannt geworden, dass die Staatsanwaltschaft wegen versuchten Mordes gegen Unbekannt ermittelt. Grund sei der Wurf eines Molotowcocktails aus den Reihen der Demonstranten gegen die Polizei.
Deutliche Kritik am Polizeieinsatz
Doch auch am Verhalten der Polizei gibt es weiter Kritik. Wie aus einem Bericht des ARD-Magazins "Monitor" hervorgeht, sind bei den Demonstrationen am Sonnabend offenbar auch friedlich Demonstrierende und unbeteiligte Personen von der Polizei eingekesselt und festgehalten worden. Nach Polizeiangaben waren in dem Kessel etwa 1.000 Personen festgesetzt. Darunter seien auch viele sehr junge Menschen gewesen - auch Minderjährige - die augenscheinlich nicht an den Ausschreitungen beteiligt waren, hieß es in dem ARD-Beitrag. Auch sei die medizinische und hygienische Versorgung in dem 11 Stunden dauernden Polizeikessel mangelhaft gewesen.
Polizei äußert sich zurückhaltend
Die Leipziger Polizei wollte sich nach Angaben von "Monitor" nicht äußern. "Man wolle die Sondersitzung des Innenausschusses am Montag im Sächsischen Landtag zum polizeilichen Vorgehen abwarten", zitiert das Magazin das sächsische Innenministerium.
In einer Mitteilung der Leipziger Polizei vom Donnerstagabend hieß es, im Polizeikessel hätten sich auch zwei Kinder befunden. Diese seien vor Mitternacht entlassen worden. Nach MDR-Informationen ist eines davon ein Mädchen im Alter von zwölf Jahren. Man habe mehr als 80 strafmündige Jugendliche im Alter zwischen 14 bis 18 Jahren registriert, so die Polizei. Die Zahlen seien aber nicht endgültig, da die Auswertung noch andauere.
Darüber hinaus habe man die Versorgung der festgesetzten Personen gewährleistet. So sei beispielsweise Trinkwasser bereitgestellt worden. Auch Nahrungsmittel habe man für die in Gewahrsam genommenen Menschen besorgt, hieß es von der Polizei. Eine medizinische Versorgung habe man über einen gegen 20 Uhr errichteten Sammelplatz für Verletzte sicher gestellt. Der Polizeidirektion Leipzig liegen den Angaben zufolge keine "umfassenden Angaben zu verletzten Teilnehmenden an den Ausschreitungen" vor.
MDR-Reporter berichteten allerdings davon, dass mehrfach Sanitäterinnen und Sanitäter nicht zu den eingekesselten Personen durchgelassen wurden. Auch die Essens- und Wasserversorgung sei überwiegend von Sanitätern oder über Soziale Medien organisiert worden.
"Eingekesselte wenig kooperativ"
Insgesamt sei der Einsatz rund um den Polizeikessel durch wenig Kooperationsbereitschaft der festgesetzten Personen erschwert worden, so die Polizei. "Grundsätzlich hat die Polizei auf Bedürfnisse der Personen reagiert und alle, die sich bei den Einsatzkräften gemeldet haben, vorrangig bearbeitet", hieß es.
Die geäußerte Kritik wird ernst genommen.
Bisher habe man aber noch nicht jeden Einzelfall auswerten können. "Die geäußerte Kritik wird ernst genommen und die Sachverhaltsaufklärung fortgesetzt", so die Polizeidirektion.
Umfrage sieht Linksextremismus als Gefahr
Das Urteil gegen die Linksextremistin Lina E. und die Ausschreitungen in Leipzig zeigen unterdessen auch überregional Wirkung. Aus einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur geht hervor, dass rund 59 Prozent der Deutschen glauben, dass vom Linksextremismus in Deutschland aktuell eine reelle Gefahr ausgeht. Lediglich vier Prozent der Befragten sagten, der Linksextremismus stelle gar keine Gefahr dar. Für die Umfrage wurden YouGov zufolge 2.098 volljährige Bundesbürgerinnen und -bürger im Zeitraum vom 2. Juni bis zum 7. Juni befragt.
Kriminalstatistik wertet rechte Gefahr deutlich höher
Der Umfrage entgegen stehen allerdings die Zahlen der Kriminalstatistik des Bundeskriminalamts. Nach "Monitor"-Recherchen zeigt die deutlich mehr rechte als linke Straftaten. Für das vergangene Jahr wurden demnach 23.493 rechte Straftaten in Deutschland gezählt - ein Anstieg um sieben Prozent. Dem gegenüber stünden 6.976 linke Straftaten, rund 31 Prozent weniger als im Jahr davor. In Sachsen liegen die Zahlen dichter beieinander. In der aktuellen polizeilichen Statistik zur politisch motivierten Kriminalität ordnet die Polizei 1.904 Delikte dem rechten Spektrum zu, 1.078 dem linken.
Auch die Zahlen der aktuell als Gefährder eingestuften Personen sind dem Magazin "Monitor" zufolge deutlich. Mit Stand 1. Juni 2023 gehe das Bundesinnenministerium von 9 linken Gefährdern in ganz Deutschland aus, hieß es. Demgegenüber stünden 73 Gefährder, die dem rechtsextremen Spektrum zuzuordnen sind.
MDR (ben)/dpa
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Nachrichten | 09. Juni 2023 | 08:00 Uhr