Rechtsmedizin Schlampige Leichenschau: Wenn Morde unentdeckt bleiben
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10. April 2023, 05:00 Uhr
Auch ein praktizierender HNO-Arzt kann zu einer Leichenschau beordert werden - so wie auch jeder andere Mediziner. Doch nicht alle sind darauf optimal vorbereitet. Das kann dazu führen, dass selbst Morde übersehen werden, wie ein Fall aus Görlitz zeigt. Wie kann das künftig verhindert werden?
Inhalt des Artikels:
- Was Oma Ingeburg wirklich erleben musste
- Durch aufmerksame Enkelin konnte Mörder schnell gefasst werden
- Wie sicher kann die Todesursache bei Leichenschauen bestimmt werden?
- Obduktionen: In Deutschland werden die wenigsten durchgeführt
- Leichenschauen: Jeder Arzt ist verpflichtet
- Wenn der Hals-Nasen-Ohren-Arzt zur Leichenschau gerufen wird
Normalerweise wäre ihre Oma an jenem Tag im August 2018 zu einem Ausflug gegangen, als Yvonne den Anruf bekommt. Sie fährt zur Wohnung und hat schon beim Betreten ein komisches Gefühl: Ihre Oma liegt tot auf dem Bett. Yvonne habe kleine Verletzungen in ihrem Gesicht erkannt. Doch die herbeigerufene Ärztin diagnostiziert eine natürliche Todesursache.
"Die Schuhe lagen komisch im Flur. Es waren also einige Kleinigkeiten, wo ich gedacht habe: Irgendwas stimmt hier nicht", sagt Yvonne. Sie möchte nicht erkannt werden, aber die Geschichte ihrer Großmutter Ingeburg aus Görlitz, bei der sie aufgewachsen ist, will sie erzählen. "Wenn eine Ärztin zu dir sagt: 'friedlich eingeschlafen', dann gehst du davon aus, dass das so ist."
Doch es ist eine Fehleinschätzung. Die Bank der Großmutter erklärt Yvonne wenig später, dass die EC-Karte der alten Dame nach ihrem Tod benutzt wurde. Das Gefühl, das nach dieser Information in ihr aufkam, kann Yvonne nur schwer beschreiben. "Das war so ein Ohnmachtsgefühl", erklärt sie mit Tränen in den Augen. Sie ging dann direkt zur Polizei.
Was Oma Ingeburg wirklich erleben musste
Dort wurde sofort eine polizeiliche Leichenschau veranlasst. Das Ergebnis: Alles deutet auf einen gewaltsamen Tod hin. Am Institut für Rechtsmedizin der TU Dresden von Professor Steffen Heide werden dann eine Vielzahl von äußeren Verletzungen festgestellt – neben Hautunterblutungen im Gesicht unter anderem ein großes Hämatom auf der Brust. "Das könnte zum Beispiel entstanden sein, indem der Täter auf dem Brustkorb des Opfers gekniet hat", sagt der Rechtsmediziner. So sei auch eine Lungenfettembolie entstanden, die mit zum Tod beigetragen habe.
Der Fall geht an die Mordkommission der Kripo Görlitz zu Kriminalhauptkommissar Andreas Krämer. Er besorgt sich von der Bank die Überwachungsbilder. Auf denen ist ein Mann zu sehen, der die Karte von Ingeburg benutzt. Krämer ordnet eine Öffentlichkeitsfahndung an. "Einen Tag nach der Veröffentlichung meldeten sich zwei polnische Frauen, unabhängig voneinander. Und beide meinten, dass sie einen Marek B. erkannt hatten", berichtet der Ermittler.
Durch aufmerksame Enkelin konnte Mörder schnell gefasst werden
Wenige Tage später kann der Verdächtige festgenommen werden. Am Ende überführte ihn ein Klebeband, das am Tatort gefunden wurde. Offenbar hatte er damit Mund und Nase des Opfers überklebt. Neben der DNA des Täters fanden die Ermittler dort auch Speichel, Blut und DNA des Opfers. Marek B. ist außerdem noch für eine Serie von Raubüberfällen auf ältere Menschen verantwortlich. Vom Landgericht Görlitz wird er später zu lebenslanger Haft verurteilt.
Der Mörder von Ingeburg konnte nur so schnell gefasst werden, weil ihre Enkelin der Diagnose "natürliche Todesursache" nicht getraut hatte und deshalb zur Polizei ging. Enkelin Yvonne hofft, dass das Ganze dann auch bei der zweiten Leichenschau aufgedeckt worden wäre.
Wie sicher kann die Todesursache bei Leichenschauen bestimmt werden?
Diese zweite Leichenschau ist in Sachsen – und auch allen anderen Bundesländern – vor einer Einäscherung Pflicht. Wie diese durchzuführen ist, ist im jeweiligen Bestattungsgesetz geregelt. "So wird der gesamte Körper von oben bis unten besichtigt und eventuelle Verletzungen aufgenommen", erklärt Professor Steffen Heide das Vorgehen. Das sollte bei guter Beleuchtung stattfinden und wirklich alles beinhalten: Mund, Augen und andere Körperöffnungen. "Das kann mir schon einen gewissen Aufschluss über die Todesursache liefern."
"Es ist gesetzlich vorgeschrieben, dass unklare oder nicht natürliche Sterbefälle meldepflichtig sind", erklärt Dr. Carsten Babian vom Institut für Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Leipzig. Der Mediziner nimmt regelmäßig Nachschauen am Krematorium in Leipzig vor. An einem Tag sind das auch mal bis zu 25. Meldet der Arzt Unstimmigkeiten, dann werde bei Polizei oder Staatsanwaltschaft entschieden, ob ein Fall näher beleuchtet werden solle – oder die Einäscherung zulässig ist.
Mir ist bewusst, dass eine zweite äußere Leichenschau nicht ausreicht, um jeden Mord oder auch jeden Unfall sicher zu erkennen.
"Mir ist bewusst, dass eine zweite äußere Leichenschau nicht ausreicht, um jeden Mord oder auch jeden Unfall sicher zu erkennen", erklärt Dr. Babian. Beispiel Vergiftungen: "Wir können anhand der äußeren Leichenschau eine Vergiftung nicht nachweisen. Ich denke, es gibt eine Dunkelziffer von übersehenen meldepflichtigen Sterbefällen, die auch uns quasi durchrutschen."
Obduktionen: In Deutschland werden die wenigsten durchgeführt
Falsch ausgefüllte Todesbescheinigungen, schlampige oder schlechte Leichenschauen: Wenn Angehörige zweifeln, ob bei einem Todesfall alles natürlich zugegangen ist, hat jeder Bürger die Möglichkeit, eine Obduktion zu veranlassen – allerdings auf eigene Kosten. "Aber es können ärztliche und vielleicht auch polizeiliche Fehler dadurch ausgeglichen werden, dass Angehörige dafür bezahlen", sagt der Präsident des Bundes deutscher Kriminalbeamter, Dirk Peglow.
Durch die Obduktion eines Rechtsmediziners können die Todesursachen genauer festgestellt werden. Denn hierbei wird neben einer äußeren auch eine innere Leichenschau durchgeführt. Deutschland ist in Sachen Obduktionen im europäischen Vergleich Schlusslicht. Hier werden im Verhältnis zu den Todesfällen die wenigsten durchgeführt – etwa 4,5 bis 6 Prozent. Belastbare Zahlen, wie hoch die Rate tatsächlich ist, gibt es nicht – nur Schätzungen. In Skandinavien soll die Rate laut Experten bei etwa 30 Prozent liegen.
Professor Heide erklärt: "Man weiß aus Studien, zum Beispiel aus Skandinavien und Großbritannien, dass dort, wo mehr obduziert wird, diese Rate der nicht natürlichen Todesfälle höher ist." So schätzen Experten, dass es auch in Deutschland bei mehr Obduktionen bis zu doppelt so viele nicht natürliche Todesfälle gibt.
Leichenschauen: Jeder Arzt ist verpflichtet
Vor einer Einäscherung können unentdeckte Fälle noch erkannt werden. Doch bis dahin vergehen oft Tage. Eine wertvolle Zeit, in der wichtige Spuren verschwinden können. Es stellt sich also die Frage, welche Regularien gelten für ärztliche Leichenschauen und welche Ärzte führen sie durch?
"In Sachsen ist es so, dass jeder Arzt verpflichtet ist, Leichenschauen durchzuführen", erklärt der Präsident der sächsischen Landesärztekammer, Erik Bodendieck. Jeder approbierte Mediziner sei dazu ausgebildet. Wer dies nicht tue, könne auch mit einer Geldstrafe belangt werden.
Erik Bodendieck ist selbst Hausarzt mit Praxis in Wurzen. In seinem Berufsleben hat er bereits unzählige Leichenschauen durchgeführt. Er ist der Meinung, dass die Ausbildung an den sächsischen Universitäten sehr gut ist und die angehenden Ärzte auch im Bereich der Rechtsmedizin durch Seminare und umfängliche Anleitungen auf die Durchführung von Leichenschauen vorbereitet würden.
Wenn der Hals-Nasen-Ohren-Arzt zur Leichenschau gerufen wird
Die Deutsche Gesellschaft für Rechtsmedizin ist allerdings der Meinung, dass die Ausbildung im Studium noch verstärkt werden müsste. "Des Weiteren hat die Deutsche Gesellschaft für Rechtsmedizin vorgeschlagen, verstärkte Fortbildungsmaßnahmen für bereits praktizierende Ärzte für Leichenschauen durchzuführen", sagt Professor Heide. "Da sprechen wir nicht über 90 Minuten. Das ist auf keinen Fall ausreichend." Es sollten demnach drei bis sechs Tage sein.
Es kann nicht sein, dass etwa Hals-Nasen-Ohren-Ärzte dreimal im Jahr mehr oder weniger zufällig zu einem Leichnam gerufen werden.
Der Fall von Oma Ingeburg ist kein Einzelfall. Aber in jüngster Zeit hat sich einiges in Sachen Leichenschau verändert. "Da hat sich ab 2020 schon etwas verbessert", sagt Professor Heide. So sind die Gebühren für eine vorläufige Leichenschau von 110 auf 160 Euro erhöht worden. "Aber es gibt eben auch noch mehrere Punkte, wo wir noch weiter vorankommen müssen und was wir noch verbessern müssen."
Der Präsident des Bundes der Kriminalbeamten fordert eine zusätzliche Ausbildung für Ärzte, die Leichenschauen durchführen. Denn: "Es kann nicht sein, dass etwa Hals-Nasen-Ohren-Ärzte dreimal im Jahr mehr oder weniger zufällig zu einem Leichnam gerufen werden", sagt Dirk Peglow. Je nachdem, wo jemand verstirbt, kann es die unterschiedlichsten Todesarten geben: im Wald, am Fuß einer Treppe oder in der Badewanne. Mit einer Leichenschau solle ausgeschlossen werden, dass es ein Fremdverschulden gegeben hat. "Also, sie brauchen hier Expertise bei der Ärzteschaft." Denn eine zweite Leichenschau gibt es nur bei Einäscherungen, aber nicht bei Erdbestattungen.
Dieses Thema im Programm: MDR+ | MDR exactly | 10. April 2023 | 17:00 Uhr