Interview mit Frank Richter 75 Jahre Grundgesetz: Die ostdeutsche Perspektive fehlt
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22. Mai 2024, 12:44 Uhr
Seit 1949 sichert das Grundgesetz Frieden, Freiheit und Demokratie – seit der Wiedervereinigung auch im Osten Deutschlands. Die Verfassung sorgt aus Sicht des sächsischen Landtagsabgeordneten Frank Richter (SPD) für eine gesellschaftspolitische Stabilität. Der frühere Bürgerrechtler kritisiert im Gespräch mit MDR KULTUR aber auch, dass das Grundgesetz nichts Ostdeutsches enthalte – obwohl die Menschen in der DDR einen größeren Beitrag zur Demokratie geleistet hätten als jene im Westen.
- In der DDR war das Grundgesetz laut Frank Richter schon vor 1990 für viele ein Demokratievorbild.
- Dem sächsischen Politiker fehlt in der gesamtdeutschen Verfassung ein Momentum aus dem Osten.
- Richter ist besorgt, dass die Akzeptanz für das Grundgesetz in Ostdeutschland abnehmen könnte.
MDR KULTUR: Herr Richter, Sie waren zu Wendezeiten in der "Gruppe der 20" in Dresden als Bürgerrechtler aktiv und leben seit 1990 mit dem Grundgesetz. Wie ist es Ihnen damit bisher ergangen?
Frank Richter: Im Großen und Ganzen ist das Grundgesetz in Ordnung. Es ist die stabilste Verfassung, die die Bundesrepublik, die Deutschland, jemals in seiner Geschichte hatte. Und wir können auch durchaus eine gesellschaftspolitische Stabilität auf der Grundlage dieses Grundgesetzes erkennen.
Wir haben uns auch schon vor 1990 an diesem Grundgesetz orientiert, auch wenn es bei uns in der DDR nicht galt.
Gleichwohl sieht das aus dem Osten Deutschlands natürlich anders aus. Ich muss ein bisschen korrigieren: Wir haben uns auch schon vor 1990 an diesem Grundgesetz orientiert, auch wenn es bei uns in der DDR nicht galt. Und die Friedliche Revolution war unter anderem der Ausdruck der Sehnsucht nach den Grundrechten, die in der DDR zum großen Teil vorenthalten wurden.
Gleichzeitig gab es ja Diskussionen nach dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes. Diskutiert wurde, das Grundgesetz zu reformieren oder auch eine gemeinsame neue Verfassung auszuprobieren. Warum ist das alles nicht gelungen?
Die Menschen in der DDR haben im Prinzip einen größeren demokratischen Beitrag geleistet, den die Menschen im Westen so gar nicht leisten mussten. Sie haben aktiv den Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes beschlossen, durch die frei gewählte Volkskammer am 23. August. Diesen maßgeblichen Beitrag der Menschen in der DDR möchte ich unterstreichen.
Die Menschen in der DDR haben einen größeren demokratischen Beitrag geleistet, den die Menschen im Westen so gar nicht leisten mussten.
Danach haben viele gesagt: So ein historisches Ereignis wie die Einheit Deutschlands kann doch nicht ohne Auswirkung auf das Grundgesetz bleiben. Das, was dann aber kam in der gemeinsamen Verfassungskommission, das versickerte. Eine große deutsche Tageszeitung schrieb neulich: Es gibt keinen einzigen dezidiert ostdeutschen Satz im Grundgesetz.
Warum ist das so?
Die Mehrheiten haben sich damals einfach durchgesetzt. Die gemeinsame Verfassungskommission bestand natürlich mehrheitlich aus Menschen aus dem Westen, darunter auch sehr hochrangige Juristen, die das alles juristisch betrachtet haben und weniger politisch.
Und so blieb praktisch diese gemeinsame Verfassungskommission ohne bemerkenswertes Ergebnis. Einige Dinge haben sich schon geändert, aber es ist nichts maßgeblich Ostdeutsches hineingekommen.
Was hätten Sie sich denn gewünscht? Was hätte reinkommen sollen?
Konrad Elmar Herzig, ein Sozialdemokrat aus dem Osten, hat einen Satz vorgeschlagen. Ich zitiere: Jeder ist zu Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn aufgerufen. Der Satz hat es sogar bis in den Bundestag gebracht und wurde dort als neuer, speziell ostdeutscher Satz im Grundgesetz diskutiert, hat dort aber die Zweidrittelmehrheit verfehlt.
Ich schließe mich Konrad Elmar Herzig an. Das wäre ein Momentum aus dem Osten gewesen, das stärker sozialpolitische Themen in den Blick nimmt. Das fehlt mir nach wie vor im Grundgesetz.
An welchen Punkten machen Sie sich Sorgen, wenn es um das Grundgesetz geht?
Es ist die Akzeptanz in der Gesellschaft. Wir haben gerade im Osten – aber nicht nur im Osten – starke politische Kräfte, die diese Demokratie, die uns so viel wert ist, abschaffen wollen, hin zu autokratischen, vielleicht sogar diktatorischen Systemen. Für viele spielt vielleicht auch Viktor Orban in Ungarn eine Vorbildrolle. Also hier. Wir haben ja auch Wahlen in diesem Jahr in drei ostdeutschen Bundesländern – da steht einiges auf dem Spiel.
Quelle: MDR KULTUR (Vladimir Balzer), redaktionelle Bearbeitung: vp
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | MDR KULTUR am Morgen | 22. Mai 2024 | 08:40 Uhr