Schuldzuweisungen und Reaktionen Nach OB-Wahl in Pirna attackieren Freie Wähler Kretschmer und die CDU

18. Dezember 2023, 12:37 Uhr

Im zweiten Wahlgang ist in Pirna ein neuer Oberbürgermeister gewählt worden, der sich von der AfD als Kandidat aufstellen ließ. Damit hat zum ersten Mal die AfD, die in Sachsen als gesichert rechtsextremistisch gilt, eine Oberbürgermeisterwahl in Deutschland gewonnen. In Sachsen und Berlin sprechen politische Vertreter von "bitteren Signalen". Die Freien Wähler gehen Ministerpräsident Kretschmer an. Und ein Arbeitsrechtler wundert sich über eine Ansage des künftigen Stadtoberhaupts.

Freie Wähler kritisieren CDU, weil sie die Drittplatzierte in 1. Runde nicht zurückzog

Nach der Wahl des AfD-Kandidaten Tim Lochner zum Oberbürgermeister in Pirna haben die sächsischen Freien Wähler die CDU scharf kritisiert. Die CDU habe es nicht fertiggebracht, sich hinter den nach dem 1. Wahlgang zweitplatzierten Kandidaten der Freien Wähler zu stellen, kritisierte der Landeschef der Freien Wähler in Sachsen, Thomas Weidinger. "Stattdessen hat man mit dem nochmaligen Antritt der CDU-Kandidatin bewusst in Kauf genommen, für die AfD den Steigbügelhalter zu spielen." Der Machterhaltungstrieb der CDU sei wohl zu groß, "um sich selbst einmal zu Gunsten eines bürgerlichen Kandidaten wie Ralf Thiele zurückzunehmen."

Es war doch klar, dass ein dritter Kandidat im zweiten Wahlgang der AfD in die Hände spielt.

Thomas Weidinger Landeschef Freie Wähler Sachsen zur Taktik der CDU

Weidinger sagte außerdem: Die CDU habe die Maske fallen lassen, man sei sich nicht zu schade, sich von SPD, Grünen und Linken unterstützen zu lassen, um zum Ziel zu kommen. "Die Menschen sehen jetzt, dass man den Äußerungen von Ministerpräsident Kretschmer keinen Glauben schenken kann. Sein Bashing gegen die Grünen ist unglaubwürdig."

CDU widerspricht Freien Wählern

Sachsens Innenminister Armin Schuster (CDU) äußerte sich im Kurzmitteilungsdienst X (ehemals Twitter): "Die AfD hat die OB-Wahl in Pirna gewonnen. Gegen zwei respektable Mitbewerber legte der AfD-Kandidat im 2. Wahlgang nochmals zu. Diesen Wählerwillen aus Pirna gilt es zu respektieren. Genauso die Entscheidung der Mitbewerber, im 2. Wahlgang wieder anzutreten."

Die unterlegene CDU-Kandidatin Kathrin Dollinger-Knuth hatte sich am Sonntagabend an ihre Anhänger gewandt. Sie war im zweiten Wahlgang auch von SPD, Grünen und Linken unterstützt worden. "Obwohl wir fast alle Kräfte hinter unserem politischen Angebot versammelt haben, hat sich der Wähler anders entschieden. Leider haben sich die Freien Wähler entschlossen, allein weiterzumachen und damit den Weg für einen AfD-Erfolg geebnet", sagte sie. Beides gelte es zu akzeptieren.

Die CDU-Kandidatin sagte MDR SACHSEN, man müsse jetzt sehen, wie das Ergebnis in der Stadtgesellschaft und bei Unternehmen ankomme. Der Kandidat der Freien Wähler, Ralf Thiele, erklärte, das Image von Pirna werde leiden. Möglicherweise würden Investoren abspringen oder junge Leute die Stadt meiden.

Das sagen Einheimische

"Ich begreife die CDU nicht. Die hätte freiwillig verzichten müssen. Das wäre vernünftig gewesen, auch mal einen Schritt zurückzutreten und sich für die gute Sache zusammenzutun", meinte die Frau aus dem Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge am Montag auf dem Markt in Pirna. "Mit drei Kandidaten musste das schief gehen." Ihr Begleiter sagte, die Mehrheit der Wähler habe sich für die AfD entscheiden. "Jetzt müssen sie durch - mit den ganzen Problemen." Ein Rentner zeigte sich skeptisch, ob der AfD-Kandidat überhaupt Probleme lösen könne.

Jetzt müssen sie durch - mit den ganzen Problemen.

Bewohner des Landreises Sächsische Schweiz-Osterzgebirge

Derweil sorgen sich Unternehmer um ihre Fachkräfte. Der Geschäftsführer des Herstellers Litronik, der Batterien für Implantate herstellt und ein internationales Führungsteam hat, sagte MDR SACHSEN: "Für uns ist es sehr wichtig, dass wir auch weiterhin hier in Pirna eine weltoffene Kultur pflegen, die für die Fachkräfte attraktiv ist, hierher zu kommen."

Auschwitz Komitee: Bitteres Signal

Auch das Internationale Auschwitz Komitee in Berlin kritisierte, dass der AfD das Feld überlassen wurde. Das Wahlergebnis in Pirna sei "ein bitteres Signal an alle Repräsentantinnen und Repräsentanten der demokratischen Parteien", sagte der Exekutiv-Vizepräsident Christoph Heubner in Berlin. Dies sei möglich, wenn sich die demokratischen Parteien nicht auf ein gemeinsames Vorgehen einigen könnten und der AfD und ihren Wählerinnen und Wählern das Feld überlassen.

Das bittere Signal der Wahl in Pirna gilt ebenso allen Nichtwählerinnen und Nichtwählern, die die Demokratie durch ihre Haltung aufgegeben haben.

Christoph Heubner Exekutiv-Vizepräsident des Auschwitz Komitees

Grüne und Linke: AfD-Wahlsieg "katastrophales Zeichen"

Die Grüne Jugend Sachsen sieht im Wahlergebnis in Pirna "eine fatale antidemokratische Entwicklung". Der Sprecher der Grünen Jugend Sachsen, Phil Sieben sagte: "Es ist ein katastrophales Zeichen, dass nur wenige Tage, nachdem der sächsische Landesverband der Alternative für Deutschland als gesichert rechtsextrem eingestuft wurde, der erste AfD-Oberbürgermeister Deutschlands gewählt wurde." Die Wahlbeteiligung von nur 53,8 Prozent sei "ein absolutes Desaster".

Ähnlich ordnete auch der Linke-Fraktionschef Rico Gebhardt den Wahlausgang ein: "Ein schwarzen Tag" - nicht nur für Pirna. "Es ist den Wählenden egal, ob eine Partei als gesichert rechtsextrem eingestuft ist, sie wählen sie bewusst trotzdem."

Ergebnisse der Wahl am Sonntag

Mit Lochner hatte am Sonntag erstmals ein Kandidat der AfD eine Oberbürgermeisterwahl in Deutschland gewonnen. Der 53-Jährige erhielt nach dem vorläufigen Endergebnis rund 38,5 Prozent der Stimmen. Dahinter rangieren Kathrin Dollinger-Knuth (CDU) mit rund 31,4 Prozent und der parteilose Ralf Thiele mit rund 30,1 Prozent.

Der AfD-Landeschef Jörg Urban nannte den Wahlsieg des parteilosen Tischlermeisters Lochner "eine Steilvorlage für die Landtagswahl" im nächsten Jahr.

Lochner will Loyalität der Rathausmitarbeiter prüfen

Nach der Wahl sprach Tim Lochner über seine Prioritäten als künftiges Stadtoberhaupt. Er wolle den Haushalt konsolidieren und Schuldensummen abbauen. 242 Mitarbeiterstellen in der Stadtverwaltung seien für ihn genug. "Eine Art Einstellungsstopp kann ich mir vorstellen". Er wolle sich genau anschauen, wie Bürgerämter und Ordnungsamt für die Einwohner erreichbar seien. Und er sagte am Wahlabend: "Ich werde die Mitarbeiter im Rathaus versuchen, möglichst einzeln kennenzulernen - und auf Loyalität prüfen."

Arbeitsrechtler hält Ankündigung für "plump" und "einschüchternd"

So eine Ankündigung findet der MDR-Rechtsexperte und Dresdner Arbeitsrechtsanwalt Silvio Lindemann "ziemlich plump und einschüchternd". "So etwas macht man heutzutage nicht. Das macht keinen guten Eindruck, sondern vermittelt den Eindruck, alle Mitarbeiter hätten Dreck am Stecken und werden durchleuchtet." Führungskräfte müssten Personal halten und motivieren. Lindemann verwies auf Beteiligungsrechte von Angestellten und dass bei Befragungen auch Mitbeteiligungsrechte von Personalräten bestünden.

Was heißt denn Loyalität überprüfen? Als Personaler muss man die Mitarbeiter motivieren und nicht mit kaltem Wind einschüchtern.

Silvio Lindemann Rechtsanwalt für Arbeitsrecht

Politologe: Rechtsruck bekommen Initiativen und Stadtmitarbeiter zu spüren

Nach Ansicht des Leipziger Politikwissenschaftlers Johannes Kiess habe die Wahl in Pirna gezeigt, dass sich der Rechtsruck manifestiere. Zu spüren bekämen diese Entwicklung nun demokratische Initiativen und Menschen, die Solidarität und Hilfe benötigen, aber auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der städtischen Verwaltung.

Der Politologe sieht in der Kommunalwahl auch einen Weckruf an die demokratischen Menschen in Pirna und darüber hinaus, "zusammen dem Aufstieg der rechtsextremen AfD Einhalt zu gebieten". Spätestens jetzt sollte "allen klar sein, worum es geht".

MDR (kk)/dpa/epd

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN | MDR SACHSENSPIEGEL | 18. Dezember 2023 | 19:00 Uhr

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