Sachsen einmal anders Von wegen abgehängtes Land: Neukirchen bei Chemnitz boomt
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28. August 2024, 05:00 Uhr
Ödnis, Leerstand, Überalterung, Wut, Frust - all das gibt es in der 7.000-Seelen-Gemeinde Neukirchen bei Chemnitz nicht. Im Gegenteil: Bürgermeister Sascha Thamm sucht händeringend nach Wohnungen für Familien, ein altes Autohaus wird kulinarisches Zentrum der Kulturhauptstadt, ein Tierarzt gilt deutschlandweit als Geflügelspezialist und die Kita ist ausgebucht. Kürzlich hat die Gemeinde den 18. Europäischen Dorferneuerungspreis bekommen. Eine Stippvisite.
Kurz hinter der Abfahrt Chemnitz-Süd wiegen sich die Getreidefelder in der Augustsonne, kleine Schäfchenwolken ziehen über den Himmel und Autos fahren auf der Landstraßen-Idylle, als entstammten sie direkt einem Werbespot. Wenige Meter nach einem Kreisverkehr führt die Chemnitzer Straße bergabwärts in die Gemeinde Neukirchen. Das Rathaus ist in ein Gerüst gekleidet und mit Geranien bestückt. Bürgermeister Sascha Thamm nimmt sich trotz seines kranken Sohnes kurz Zeit.
Wohnungen für Familien fehlen
"Wir haben sehr viel Nachfrage nach Wohnraum", erklärt Sascha Thamm. Nicht der Leerstand, sondern der Zuzug sei in Neukirchen zu managen. "Uns fehlen vor allem Vier-bis Fünfraum-Wohnungen für Familien." Gern würde Thamm bauen und neue Wohngebiete ausweisen. Da Neukirchen jedoch laut Landesentwicklungsplan nicht als sogenannter "zentraler Ort" ausgewiesen ist, sind ihm die Hände gebunden. "Ich darf keinen Zuzug fördern und einfach ein Wohngebiet ausweisen", erklärt der Bürgermeister. "Ich muss immer beweisen, dass die Einwohner von Neukirchen auch wirklich Wohnraum brauchen".
Ich darf keinen Zuzug fördern und einfach ein Wohngebiet ausweisen. Ich muss immer beweisen, dass die Einwohner von Neukirchen auch wirklich Wohnraum brauchen.
Thamm fordert: "Der überholte Landesentwicklungsplan muss dringend angepasst werden". Gerade der ländliche Raum habe mit dem überalterten Plan keine guten und realistischen positiven Entwicklungsmöglichkeiten. Aktuell haben seine Behörden einen neuen Bebauungsplan beantragt. Neukirchen möchte neue Miets-und Einfamilienhäuser. Ob es jetzt von den oberen Behörden genehmigt wird? "Wir warten und hoffen", erklärt der Bürgermeister.
Kitas an Kapazitätsgrenze
Thamm würde also liebend gern in seiner Gemeinde größere Brötchen backen. Denn nicht nur der Wohnraum ist gut nachgefragt. Auch Kita-und Hortplätze sind heiß begehrt. Hinter dem Rathaus schlängelt sich eine kleine Asphaltstraße den Anstieg hoch. Sie mündet in den Hof der kommunalen Kita "Wiesenzwerge". Davor warten die Kita- und Hortleiterinnen Pia Polzin und Cathleen Haupt, bevor sie in den Garten führen, auf die Spielwiese der Kleinen. "Wir betreuen aktuell 450 Familien vom Krippenalter bis zur Grundschule. Unsere Plätze sind immer am Rande der Kapazität ausgelastet", erklärt Cathleen Haupt.
Unsere Kita-Plätze sind am Rand der Kapazität.
Schnelle Absprachen mit dem Rathaus
Neukirchen führt Kita, Hort und Schulen in eigener Trägerschaft. "Das leisten wir uns - und das wollen wir uns auch weiter leisten", hat Bürgermeister Thamm kurz vorher im Rathaus erklärt. Kita-Leiterin Polzin schätzt die enge Zusammenarbeit mit dem Rathaus. "Die Vorteile der kommunalen Einrichtungen sind enorm", erklärt sie. "Ob genügend Rettungsschwimmer im Schwimmbad sind oder wir kurzfristig den Ausflug machen können – die Gemeinde, Eltern und Familien sind hier eng und konstruktiv verbunden."
Auch die Zusammenarbeit mit den Vereinen und Unternehmen sei eng und wertvoll. "Wir backen mit den Kindern beim Bäcker, stellen in der Seifenmanufaktur Seife her oder besuchen den Apotheker oder Bürgermeister", schwärmt Polzin. "Die Kinder dürfen sich auch wünschen, was sich in unserem Ort verändern soll."
Kinder sind frei von Vorurteilen
Während die Kita-Leiterinnen reden, stehen ihre Kolleginnen aus der Verwaltung im Hintergrund und nicken die ganze Zeit. Sie haben ihren Fachkolleginnen den Vortritt gelassen, doch neben Sandkasten und Klettergerüst herrscht große Einigkeit. Die Blätter der Bäume wiegen sich im leichten Wind, es könnte alles perfekt sein.
Spürt man die gesellschaftliche Spaltung in der Kita? "Nein, hier spüren wir die Spaltung nicht. Unsere Kinder gehen mit Kindern anderer Nationalitäten und anderslebenden Kindern ganz normal um", erklärt Haupt. "Wir haben hier Kinder gleichgeschlechtlicher Paare und auch viele Kinder aus türkischen, rumänischen, ukrainischen und russischen Familien. Kinder sind völlig frei von Vorurteilen. Vorurteile werden von Erwachsenen gemacht."
Kinder sind völlig frei von Vorurteilen. Vorurteile werden von Erwachsenen gemacht.
Neukirchen ist 2,5 Mal so groß wie der Schlosspark von Versailles
Für die nächste Station, die den Aufstieg Neukirchens gut beschreiben kann, geht es an den Stadtrand. Der Gemeinde zieht sich - zusammen mit seinem Ortsteil Adorf - über eine Länge von über neun Kilometern, insgesamt erstreckt sie sich auf 20 Quadratkilometern. Das ist fast so groß wie die Fläche des Frankfurter Flughafens oder 2,5 Mal so groß wie der Schlosspark in Versailles.
Die Gemeinde Neukirchen ist also kein kleines Dorf, sondern könnte mit knapp 7.000 Einwohnern auch eine Stadt sein - ist sie aber nicht. Im Gegenteil: Chemnitz wollte Neukirchen schon immer gern eingemeinden. "Dazu ist es aber nie gekommen und darauf sind wir stolz", erzählt Bürgermeister Thamm. Dazu gebe es fast schon legendäre Geschichten aus den 90er- Jahren, wie sich seine Vorgänger am Biertisch verständigt hätten, um den Versuchen Chemnitz' zu verstehen.
Autohaus mit Starpotenzial
Am rechten Straßenrand blitzt eine riesige Baustelle auf. "Das wird unsere neue Grundschule", erklärt Jana Gratias. Doch darum soll es jetzt nicht gehen. Die Netzwerkkoordinatorin des Ortes führt uns zu einem verlassenen Autohaus mit einer spacigen 90iger-Jahre-Architektur. An der Fassade prankt ein Plakat "Das WIRtshaus für alle Fälle". "Dieses Gebäude wird das kulinarische Mega-Hub der Kulturhauptstadt 2025", erklärt Gratias und hört nicht auf zu strahlen.
Mit einer hochwertigen Showküche soll hier ein Zentrum nicht nur des gemeinsamen Essens, sondern auch des gemeinsamen Kochens entstehen", erklärt die Visionärin. Einerseits sollen Bezahlformate mit Starköchen und großen Kochevents entstehen, die weit ausstrahlen. Andererseits soll hier auch ein Ort der Gemeinschaft für die Vereine und Initiativen der Stadt entstehen. "Warum muss denn jeder für einen Kuchenbasar allein zu Hause backen, das lässt sich doch viel besser zusammen erleben."
Dieses Gebäude wird das kulinarische Mega-Hub der Kulturhauptstadt 2025.
Doch das Autohaus mit Starpotenzial soll noch viel mehr werden: Veranstaltungsort für private und Firmenfeiern, für Feste der Gemeinde, Ausstellungsort, Tagungsort. Hier soll beim After-Work-Getränk, vielleicht auch auf dem Dach, die Aussicht auf das Erzgebirge genossen werden. Eine Großküche wird die Kita-und Schulkinder der Gemeinde versorgen - und der Bauhof ist auch schon angegliedert.
Europäischer Dorferneuerungspreis
Neukirchen hat im interkommunalen Verbund mit der Nachbargemeinde Jahnsdorf den 28. Europäischen Dorferneuerungspreis bekommen. Dafür gibt es zwar kein Geld, aber viel Ruhm und eine Marketing-Kampagne des Freistaats. Jana Gratias hat das Konzept mit vielen Akteuren des Ortes zusammen entwickelt - und die europäische Jury überzeugt.
Entlang des Würschnitztals haben sie die Region als Startpunkt für die Entdeckung der UNSECO Welterbe Montanregion Erzgebirge entwickelt. Dabei geht es nicht nur um schöne Ausflüge, sondern vor allem um Gemeinschaft, erklärt Gratias. Einen Entwurf also gegen die kulturelle Strukturschwäche, die es oft im ländlichen Raum gibt. "Bei uns soll nicht nur die Kneipe ein Ort der Begegnung sein".
Tierarzt: Rückkehrer und Geflügelspezialist
Weil er seine Heimat so schön findet - und sie kulturell nicht so leergespült ist wie andere Regionen, ist Tierarzt Frederik Ranck zurückgekehrt. Mit seinen drei Kindern und seiner Frau ist er nach Stationen in Budapest, Dresden, Gießen und Leipzig wieder nach Neukirchen gezogen. "Die Ausstattung der Gemeinde ist gut, wir haben Krippen, Kitas, Schulen, Hort, das Komplettprogramm für die Kinder", erklärt der Tierarzt. Supermärkte, Getränkemärkte, alles sei in Laufreichweite.
"Neukirchen ist ein sehr kompaktes Dorf, es ist ein schönes Leben hier." Neben ihm gibt es noch weitere Tierärzte, aber auch fünf Allgemeinmediziner. "Es gibt sogar Gespräche über die Ansiedlung einer Kinderarztpraxis", freut sich Bürgermeister Thamm.
Leute kommen von Bayern nach Neukirchen
Rancks Tierarztpraxis steht ohne viel Tamtam am Rande des Ortes mit Blick zum Erzgebirge. Von außen lässt sich nicht erahnen, welche Expertise darin steckt. Dabei pilgern Geflügeltierhalter aus dem gesamten Bundesgebiet zu dem Geflügelexperten. "Geflügelgesundheit und -tierhaltung ist eine diffizile Angelegenheit", erklärt er.
Der Murmelweltmeister aus Neukirchen
Doch auch Katzen und fast alle andere Tiere werden von Ranck behandelt. Er kann alles, vom Ultraschall und Röntgen, bis zu Zahnbehandlungen und Operationen.
Ranck gibt der Gemeinschaft auch etwas zurück. Er gibt vielen Praktikanten die Möglichkeit, die Praxis kennenzulernen, er bildet Nachwuchs aus und finanziert sogar Stipendien für Tiermedizinstudenten. Er sitzt im Gemeinderat. Und er ist Murmelweltmeister - der Murmelverein aus Neukirchen murmelt also an der Weltspitze.
Kunsthandwerk und Dialog quer durch die Zeiten
Ein tägliches Zentrum des Ortes ist das Kunsthandwerkcafé von Jungunternehmerin Celine Lubojanski. Mit ihrem Angebot präsentiert sie das Kunsthandwerk des Erzgebirges in all seinen Zeitschichten von klassisch bis modern.
Gleichzeitig will sie mit ihrem Café und der Rösterei ein Ort des Miteinanders und der Identifikation sein. "Wir wollen hier die Menschen mitnehmen, in den Austausch bringen - und natürlich auch ein bisschen glücklich machen", erklärt sie. Das "NETZwerk" im alten Autohaus sei ein tolles Projekt. "Am Willen mangelt es da bei uns in der Gemeinde nicht. Es gibt wirklich viele Menschen, die etwas wollen und voranbringen wollen."
Gemeinschaft als Credo
Bürgermeister Thamm sieht es ähnlich: "In Neukirchen hat sich die Gemeinschaft besonders in den vergangenen zehn Jahren kontinuierlich entwickelt", erklärt er. Ehrenamtliche aus etwa 80 Vereinen würden sich engagieren. "Wir haben sehr, sehr viele Ehrenamtliche, die zu unglaublich vielen Dingen bereit sind. Ich glaube, das ist unsere große Stärke, dass wir die Gemeinschaft aktiv pflegen." Gemeinschaft ist also das Credo, was der Neukirchner Bürgermeister ganz oben ansetzt. Vielleicht ist das ja die Zauberformel.
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Dienstags direkt | 20. August 2024 | 20:00 Uhr
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