Therapie Warum ein überbelegter Maßregelvollzug eine Gefahr sein kann
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15. Oktober 2022, 17:50 Uhr
Der Maßregelvollzug in Sachsen-Anhalt ist überbelegt. Das kann laut Sozialministerium zu einer Gefahr für die allgemeine Sicherheit werden. Zwar muss niemand untherapiert bleiben. Aber es könnte sein, dass aus Platznot Patienten zu früh entlassen werden. Psychiater Henning Flechtner vom Uniklinikum Magdeburg meint: Es braucht im Maßregelvollzug mehr Platz und mehr Personal.
- Die Zahl der Menschen im Maßregelvollzug in Sachsen-Anhalt steigt seit Jahren, die Einrichtungen sind überbelegt.
- Es könnte daher sein, dass Patienten zu früh entlassen werden und wieder rückfällig werden, meint ein Psychologe.
- Chancen sieht er in besserer Prävention.
Wer eine Straftat unter Drogen- oder Alkoholeinfluss oder wegen einer psychischen Erkrankung begeht, kommt mit hoher Wahrscheinlichkeit in den sogenannten Maßregelvollzug. Ist das der Fall, hat das Gericht einen Zweifel an der Schuldfähigkeit des Täters festgestellt.
Bei der Unterbringung dieser Menschen steht dann eine Therapie im Fokus, die in Sachsen-Anhalt in zwei Einrichtungen erfolgen kann: In Uchtspringe im Landkreis Stendal werden Menschen mit psychischen Erkrankungen therapiert. In den Maßregelvollzug in Bernburg im Salzlandkreis kommen Menschen, die eine Straftat unter Alkohol- oder Drogeneinfluss begangen haben.
Maßregelvollzug in Sachsen-Anhalt überbelegt
Aber: Die Zahl der Menschen, die nach einem Gerichtsurteil in den Maßregelvollzug kommen, steigt seit Jahren. Mittlerweile sind beide Standorte überbelegt. So hatte es das Sozialministerium Ende des Jahres 2021 mitgeteilt. Damals waren 494 Patienten in den Maßregelvollzugseinrichtungen Sachsen-Anhalts untergebracht, hieß es. Allerdings sind diese nur für 443 Patienten ausgelegt.
Die Auslastung hat sich auch gut ein Jahr später nicht verringert. Im Gegenteil: Laut Sozialministerium waren in den Standorten Bernburg und Uchtspringe Ende August sogar insgesamt 518 Patienten untergebracht. Das sind 24 Patienten mehr als im Vorjahr. Die Zahl der Patienten steigt stetig, sodass das Sozialministerium damit rechnet, dass bis 2026 etwa 670 Plätze im Maßregelvollzug in Sachsen-Anhalt gebraucht werden.
Sozialministerium: "Eine Gefahr für die Sicherheit"
Damit würde sich die Lage im Maßregelvollzug erneut verschärfen. Anfang 2021 hatte das Sozialministerium unter Petra Grimm-Benne (SPD) in einer Sitzung der Landesregierung gewarnt, dass im schlimmsten Fall verurteilte Straftäter "untherapiert" in die Freiheit entlassen werden müssten. Das alarmierende Fazit des Ministeriums damals: "Dies stellt eine erhebliche Gefahr für die allgemeine Sicherheit dar."
Ein Jahr später ist die Situation laut Sozialministerium immer noch angespannt, aber es "mussten oder müssen keine Patienten oder Patientinnen untherapiert entlassen werden", heißt es auf Anfrage von MDR SACHSEN-ANHALT.
Besucherräume weichen für Patientenzimmer
Psychiater Henning Flechtner sieht dennoch Probleme. Flechtner leitet die Kinder und Jugendpsychiatrie am Uniklinikum in Magdeburg und ist Vorsitzender des Landespsychiatrieausschusses. Die Überbelegung des Maßregelvollzugs habe Konsequenzen, sagte Flechtner MDR SACHSEN-ANHALT. Das Problem sei, dass der Maßregelvollzug die Personen aufnehmen müsse, wenn es das Gericht so entscheide. "Aber es ist natürlich nicht automatisch das Personal da, um plötzlich 50 Patienten mehr zu behandeln und zu betreuen", sagt Flechtner.
Um der aktuellen Lage Herr zu werden, mussten Wege gefunden werden, um die zusätzlichen Patienten aufzunehmen. Am Standort Uchtspringe wurden daher Besucherräume zu Patientenzimmern umgebaut. Der Standort in Bernburg löst die Platznot durch eine Doppelbelegung von Einzelzimmern, heißt es auf Nachfrage von MDR SACHSEN-ANHALT.
Warum gerade so viele Menschen in den Maßregelvollzug kommen, könne keiner sagen, so Flechtner. Das liege an unterschiedlichen Faktoren und an den Gerichten, die unterschiedlich entscheiden. Fakt sei aber: Alle Bundesländer hätten derzeit dasselbe Problem.
Patienten können zu früh entlassen werden
Und dann ist da noch etwas: Wie lange ein Patient im Maßregelvollzug bleibt, wird individuell entschieden. Flechtner erklärt: "Es muss abgewogen werden zwischen der noch verbleibenden Gefahr für die Allgemeinheit und dem natürlichen Recht des Einzelnen, in Freiheit zu leben."
Nach Einschätzung von Flechtner kann eine Überbelegung dazu führen, dass ein Patient zu früh entlassen wird. "Denn nach mehreren Jahren im Vollzug", so der Psychiater, "kann es zu sogenannten Verhältnismäßigkeitsentlassungen kommen."
Sprich: Es wird ein Patient entlassen, auch wenn sich die Ärzte nicht sicher sind, dass keine Gefahr mehr für die Allgemeinheit besteht. Die Menschen kämen "unvorbereitet in die normale Freiheit", so Flechtner. Die Patienten könnten dann schlimmstenfalls rückfällig werden – und wieder im Maßregelvollzug landen.
Einzige Lösung: mehr Zimmer, ausreichend Personal
Bei einer Tagung des Psychiatrieausschusses hatte Flechtner den Maßregelvollzug in Sachsen-Anhalt besucht. Der einzige Rat, den der Psychiater im Augenblick hat, ist: ausreichend Personal zur Verfügung stellen und mehr Zimmer für die Patienten schaffen. An beiden Standorten in Sachsen-Anhalt wird sich um letzteres bereits gekümmert. Bis 2024 sollen weitere Wohnbereiche in Bernburg und Uchtspringe entstehen, heißt es vom Sozialministerium.
Doch bis es zu einer Entlastung kommt, vergehen somit noch gut zwei Jahre. Laut Flechtner gibt es in diesem Fall aber auch keine Zwischenlösungen. Denn ein Patient aus dem Maßregelvollzug kann laut Gesetz nicht einfach in einer Justizvollzugsanstalt (JVA) oder einer psychiatrischen Klinik untergebracht werden. "Das ist nicht miteinander kompatibel", erklärt der Psychiater.
Was Sachsen-Anhalt präventiv unternehmen könnte
Um langfristig Entlastung im Maßregelvollzug zu schaffen, müsste in Sachsen-Anhalt mehr Prävention betrieben werden. Zwar können laut Flechtner wahnhafte Störungen nicht im Vorfeld verhindert werden – beziehungsweise nur sehr selten. Aber es könne in Sachen Suchtprävention frühzeitig etwas unternommen werden.
Das Sozialministerium teilte MDR SACHSEN-ANHALT auf Nachfrage mit, dass Sachsen-Anhalts Schulen, Jugendhilfen und Ausbildungsbetriebe zumindest über Angebote der verschiedenen Suchtberatungsstellen informiert sind. Würde damit entsprechend gearbeitet, könnte so über einen langen Zeitraum der Maßregelvollzug in Bernburg entlastet werden, so Psychiater Flechtner.
MDR (Maximilian Fürstenberg)
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 10. Oktober 2022 | 11:00 Uhr
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