Abgehängt auf dem Dorf? Die Gemeindereform in Sachsen-Anhalt und ihre Nachwehen
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19. Juni 2023, 16:44 Uhr
Beziehungen können sensibel sein. Besonders, wenn die Partner keine Personen, sondern Ortschaften sind. Vor mehr als zehn Jahren mussten sich in Sachsen-Anhalt kleine Städte zu größeren zusammenschließen. Die Gemeindereform wirkt noch immer nach. Das zeigt eine Diskussion in der Stadt Seeland. Eine Analyse.
- In Seeland gibt es kurz vor der Bürgermeister-Wahl am Sonntag eine Diskussion um die Eingemeindung nach Aschersleben.
- Sachsen-Anhalt hat große Gemeindestrukturen: Dafür gibt es viele Beispiele. Auch anderswo gibt es aber Diskussionen.
- Ein Experte sagt: Für die Demokratie vor Ort ist das schwierig. Das zeige sich auch in der Wahlbeteiligung.
"Es funktioniert denke ich nicht, wenn wir jetzt einfach sagen: Lassen wir es halt die Ascherslebener machen", sagt eine Besucherin vor dem Wahlforum in Nachterstedt. Weit mehr als 200 Menschen dürften im Saal sitzen. Auf der Bühne diskutieren zwei Bürgermeisterkandidaten vor roten Samtvorhängen über Ideen für die Zukunft der Stadt Seeland.
Bürgermeisterkandidat will Seeland auflösen und in Aschersleben eingemeinden
Einer der beiden parteilosen Kandidaten hat die Bürgermeisterwahl kurzerhand zu einer Richtungswahl erklärt. Mario Lange will mit der Stadt Aschersleben über eine Eingemeindung von Seeland verhandeln. Ein Bürgermeisterkandidat, der antritt, seine Stadt aufzulösen und die sechs Ortsteile mit dem Nachbarort zu fusionieren. "Wir können endlich anfangen, durch Fördergelder unsere Straßen, unsere Gehwege, die Kitas zu sanieren. Auch hier ist ein Sanierungsstau, die Straßenbeleuchtung in den Griff zu kriegen", sagt Mario Lange auf der Bühne. Eines seiner Argumente.
Dass die Stadt Seeland eigenständig bleibt, will der ebenfalls parteilose Kandidat Robert Käsebier. "Wer ich dann sehe: Seeland, Eingemeindung mit Aschersleben. Das 17., 18. Dorf. Wer in Mathe ein bisschen aufgepasst hat, sieht dann, wann ich vielleicht dann mal mit einer Baumaßnahme dran bin", stellt er im Gespräch mit MDR SACHSEN-ANHALT fest.
Mehr zum Thema sehen im Beitrag von MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE vom 13. Juni.
Während des Wählerforums ist die Stimmung im Saal gereizt. Es gibt Zwischenrufe. Die Diskussion ist emotional. "Ob das alles gut ist? Wir werden sehen. Es ist mutig von ihm", sagt ein Besucher. "Ich will den Dorfcharakter lieber so behalten. Seeland kann ruhig Seeland bleiben", sagt ein anderer Seeländer am Rande des Podiums.
Dorfcharakter haben die sechs Seeland-Ortsteile. Rund 7.600 Menschen leben in den Orten rund um den Concordia-See. Auch, wenn die Dörfer zum Teil Hunderte Jahre alt sind, die Stadt Seeland ist es nicht. Sie ist ein Konstrukt – entstanden während der jüngsten Gemeindereform. Vor weit mehr als zehn Jahren sollten sich Städte in Sachsen-Anhalt zu größeren Einheitsgemeinden zusammenschließen. Die Grundidee: größere Verwaltungseinheiten sollten sich effizienter verwalten lassen.
Eigenständigkeit scheint wichtig
Das Zusammenwachsen war schwierig. Dass Hoym und Frose ganz früher zum Herzogtum Anhalt gehört haben, steht seit einigen Jahren auf den Ortseingangsschildern. Das war in den Orten wichtig. Wie 2020 in Frose. Heute steht dort auf dem Ortschild: Frose/Anhalt, Stadt Seeland.
Im Jahr 2020 hatte MDR SACHSEN-ANHALT im Hörfunk über die Diskussion berichtet:
Wahlkampf-Diskussion um Eingemeindung
Drei Jahre später gibt es nun die Wahlkampf-Diskussion um eine Eingemeindung zum größeren Nachbarn, nach Aschersleben. Dort wurde die Idee gehört, so schien es zwischenzeitlich. Ascherslebens Oberbürgermeister Steffen Amme hatte sich in einer Wahlbroschüre zitieren lassen und Offenheit signalisiert. Zuletzt hieß es aus dem Rathaus der 27.000-Einwohner-Stadt Aschersleben aber:
[…] das Thema Eingemeindung/Fusion ist für die Stadt Aschersleben derzeit keines.
Sachsen-Anhalt hat große Gemeindestrukturen
Die Stadt Aschersleben besteht aus einer Kernstadt und elf Ortsteilen. Damit dürfte die Stadt eher im Mittelfeld in der Statistik der Einheitsgemeinden in Sachsen-Anhalt liegen. Denn: im vergleichsweise dünn besiedelten Bundesland gibt es riesige Städte: Gardelegen, Möckern und Zerbst/Anhalt gehören flächenmäßig zu den größten in Deutschland. Von Gardelegen aus werden 48 Ortsteile verwaltet.
Und so ist die Diskussion im Seeland ist aber nicht die einzige, um Gemeindestrukturen in Sachsen-Anhalt. Das Dorf Lüderitz, ein Ortsteil von Tangerhütte, möchte aus der Einheitsgemeinde austreten. Das hatte der Ortschaftsrat einstimmig beschlossen. Der Grund: Lüderitz habe über Jahre Millionen Euro Gewerbesteuer gezahlt, Investitionen in den Ort habe es aber so gut wie gar nicht gegeben, so zumindest der Vorwurf.
Demokratie vor Ort durch Gemeindereform gefährdet?
Dass wichtige Entscheidungen nicht mehr im Dorf, sondern zwei, drei Orte weiter in den Stadträten der Einheitsgemeinden getroffen werden, das eigene Dorf eines von vielen ist und es wenig Gelder zu verteilen gibt, das sorgt vielerorts für Frust. Denn: die Interessen des eigenen Ortes zu vertreten, das dürfte nicht einfacher geworden sein.
Im Aschersleber Ortsteil Drohndorf gelingt das aber. Zur Ortschaftsratssitzung an einem Abend im Juni dieses Jahres gibt es Gelder zu verteilen. Für die Vereine im Dorf. 2.325 Euro, um genau zu sein. Der Fußballverein bekommt einen Zuschuss für die Umkleidekabinen, der Kulturverein fürs Sommerfest, der Tanzverein Geld für Kostüme, Unterstützung gibt es auch für ein Dorffest. Auf den Euro genau wird hier abgerechnet. Das Geld sitzt nicht locker, in Aschersleben.
Ortschaftsrat braucht langen Atem
Ortsbürgermeisterin Sabine Herrmann und die anderen Ortschaftsräte haben außerdem Hinweise gesammelt, für die Verwaltung. Schlaglöcher sind ein Thema, der Zustand der Entwässerungsgräben im Ort. Hinweise von Anwohnern. Über den Ortschaftsrat, direkt an die Stadt. Manches lässt sich direkt klären. Vieles dauert. Das Kleinklein des Verwaltungsalltags. Der Ortschaftsrat gibt Hinweise. Entscheidungen über Straßensanierungen, größere Investitionen, die fallen im Stadtrat in Aschersleben. Um sich dort Gehör zu verschaffen, brauche es einen langen Atem – und man müsse Rechtsvorschriften und Verwaltungsregelungen kennen.
Auf jeden Fall ist es das, was nötig ist, ohne schafft man es nicht.
In Drohndorf wurden große Projekte umgesetzt. Die Feuerwehr hat vor Jahren für einen Ersatzneubau für das alte Feuerwehrdepot gekämpft. Erfolgreich. Und als in Drohndorf eine marode Flussüberquerung gesperrt werden musste, hat der Ortschaftsrat bei der Stadt intensiv für einen Neubau geworben. Die Anwohner dahinter mussten lange Umwege in Kauf nehmen. Inzwischen ist die Brücke neu gebaut. "Da haben wir halt die Stadträte von Anfang an gleich einbezogen, die Fraktionsvorsitzenden", sagt Sabine Herrmann.
Teilhabe in Einheitsgemeinden ist schwieriger
Teilhabe scheint schwieriger, in großen Verwaltungsstrukturen. Und das zeigt sich auch an der Wahlbeteiligung. "Die Leute gehen weniger häufig zur Wahl in diesen großen Einheiten. Und wir haben halt auch viel, viel weniger Kommunalpolitiker", sagt der Verwaltungsökonom Prof. Felix Rösel. Er lehrt und forscht an der TU Braunschweig. "Demokratie leidet in größeren Einheiten", so der Forscher. Er spricht von einem Gefühl der Entmachtung.
Größere Verwaltungseinheiten würden auch nicht unbedingt Geld sparen. Eventuell verbessere sich der Service für die Bürgerinnen und Bürger, stellt der Wissenschaftler fest.
Städte teilen sich Verwaltungsaufgaben
Dass sich Verwaltungsarbeit auch über Stadt- oder Landkreisgrenzen hinweg gemeinsam organisieren lässt, zeigen die Städte Aschersleben, Seeland, Arnstein und Falkenstein. Die Städte haben Zweck- und Kooperationsvereinbarungen ausgehandelt. Arbeiten seit rund zehn Jahren zusammen. Zum Beispiel in den Bereichen Stadtentwicklung, Wirtschaft, Tourismus oder Kultur. Aber auch Standesbeamte haben schon bei den Nachbarn ausgeholfen.
In anderen Bundesländern würden kleinere Gemeinden sogar gemeinsame Ämter gründen. "Man schließt sich eben zusammen zu starken, größeren Einheiten, behält die Demokratie aber vor Ort. Für mich ist das ein sehr plausibles Modell", stellt Felix Rösel fest.
Seeland: Bürgermeister-Wahl am Sonntag
In der Stadt Seeland wurde am Sonntag erst einmal ein neuer Bürgermeister gewählt. Über Gebietsänderungen, also Eingemeindungen könnten nur die Stadträte entscheiden. In der Stadt Seeland und in Aschersleben. Die emotional geführte Debatte im Wahlkampf der Stadt Seeland, die dürfte aber gezeigt haben: damit Dörfer zu einer Stadt zusammenwachsen, braucht es mehr, als einen gemeinsamen Stadtrat und ein gemeinsames Rathaus.
MDR (Tom Gräbe)
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 13. Juni 2023 | 19:00 Uhr
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