Politikwissenschaftler über Demos Warum gerade im Osten so viele Menschen auf Demos gegen Energiepreise gehen
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17. Oktober 2022, 18:01 Uhr
Jede Woche versammeln sich derzeit tausende Menschen in verschiedenen Städten Sachsen-Anhalts, um gegen die Energie- und Außenpolitik zu demonstrieren – auch diesen Montag. Im Interview mit MDR SACHSEN-ANHALT erklärt der Politikwissenschaftler Benjamin Höhne, warum insbesondere die Menschen im Osten Deutschlands auf die Straße gehen und welche Rolle die AfD dabei spielt.
MDR SACHSEN-ANHALT: Herr Höhne, warum gehen derzeit vor allem die Menschen in Ostdeutschland auf die Straße?
Benjamin Höhne: Man muss ganz deutlich sagen, dass die soziale Situation im Osten eine andere als in Westdeutschland ist. Wenn wir uns anschauen, was die Leute auf dem Konto haben, welchen Wert Wohnungen und Häuser besitzen, dann besteht in Ostdeutschland einfach ein anderer finanzieller Rückhalt. Es ist doch klar, dass bei einer so schwierigen Situation, die jetzt wahrscheinlich auf uns zukommen wird, Unsicherheit vorherrscht, Ängste noch stärker auftreten als in Westdeutschland und dies die Leute eher auf der Straße treibt.
Zur Person: Benjamin Höhne
Benjamin Höhne, geboren in Wittenberg, ist promovierter Politikwissenschaftler und Lehrbeauftragter an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Schwerpunkte seiner Forschung sind unter anderem Parteien, Ostdeutschland und Rechtspopulismus. Im Sommersemester 2022 war Höhne für einen Forschungsaufenthalt an der Johns Hopkins University in den USA.
Warum gelingt es vor allem der AfD, die Leute zu mobilisieren?
Da geht ein Stück weit die Saat auf, die rechte Organisationen über Jahre gesät haben, insbesondere im Hinblick auf Anbindung der AfD an rechtsextreme Organisationen. Man stützt sich auf vielfältige rechte Netze in der Gesellschaft. Gewerkschaften und zivilgesellschaftliche Akteure haben in Ostdeutschland dagegen nie so eine Bindung aufbauen können wie im Westen.
Zudem gibt es in Ostdeutschland starke Ressentiments gegenüber der etablierten Politik, weil vieles vor allem in der Wirtschaft eben nicht so lief, wie man es sich vorgestellt hat oder wie es versprochen wurde. Es bildete sich deshalb schon bald nach dem Beitritt ein Hang der Ostdeutschen heraus, sich aufmerksamkeitswirksam Ventile zu suchen, um etwa auf eine unbefriedigende ökonomische Situation hinzuweisen oder schlichtweg Protest gegenüber den Institutionen der westdeutschen Mehrheitsgesellschaft zu artikulieren.
Früher waren das die klassischen Themen der Linkspartei.
Ja, die Linkspartei hatte frühzeitig die Rolle als Kümmererpartei und volksparteiliche Ostvertreterin eingenommen. Diese Stellung ist ihr aber nach und nach verloren gegangen, auch, weil sie sich gesamtdeutsch aufgestellt hat und dabei bis heute zwiespältige Signale etwa bei Migrationsthemen aussendet. Die AfD hat diese ostdeutsche Protest-Rolle als eines ihrer Charakteristika mehr und mehr an sich gerissen.
Als populistische Partei ist sie sehr flexibel darin, jenseits ihres dünnen Programms alle möglichen Themen aufzunehmen und zu besetzen, von denen sie glaubt, punkten zu können. Viele Menschen, die jetzt demonstrieren, stehen mit Sicherheit nicht hinter allem, was die AfD sagt. Dennoch finde ich es problematisch, wenn man mit Rechtsextremen Hand in Hand geht. Eines sollte nicht vergessen werden: Die Leute, die jetzt auf der Straße sind, repräsentieren nicht ganz Sachsen-Anhalt oder ganz Ostdeutschland. Sie sind nur ein kleiner, wenn auch lautstarker Teil der Gesellschaft, der sich womöglich zunehmend Gehör verschafft.
Viele Menschen auf den Demonstrationen fordern, Waffenlieferungen in die Ukraine und die Sanktionen gegen Russland zu beenden. Liegt das an der Nähe oder gar Sympathie zu Russland, die vielen Ostdeutschen nachgesagt wird?
Man hat im Osten zwar über viele Jahre eine gefühlte Nähe zu Russland gehabt, aber daraus ist so gut wie nie eine tatsächliche deutsch-russische Freundschaft entstanden. Ich glaube, in diesen Forderungen schwingt eher eine diffuse Angst vor Russland mit. Der Einzug der sowjetischen Armee und die damit verbundenen Begleiterscheinungen, Hunger, Vertreibungen, Vergewaltigungen, all dies ist Teil des kollektiven Gedächtnisses der ersten Generation der DDR, die vieles davon an nachkommende Generationen weitergegeben hat.
Ich glaube nicht, dass sich Putin durch einen auf Gesprächsangebote setzenden Kurs von seiner testosteronangereicherten Großmachtlinie abbringen lässt.
Viele Menschen denken offenbar, dass sie mit einer verständnisvollen Sicht auf Russland den russischen Bären besänftigen können. Ich halte dies für einen Trugschluss. Ich glaube nicht, dass sich Putin durch einen auf Gesprächsangebote setzenden Kurs von seiner testosteronangereicherten Großmachtlinie abbringen lässt. Wenn man Sanktionen gegen Russland zurücknehmen und Gesprächsangebote zuungunsten der Ukraine unterbreiten würde, würde dies Putin kaum im Sinne eines Rückzugs besänftigen.
Kann die AfD langfristig von den Demonstrationen und der Unzufriedenheit der Menschen profitieren?
Ich befürchte ja. Der Krieg in der Ukraine, die damit einhergehende Inflation und steigende Gaspreise werden uns länger beschäftigen. Wir haben gerade erst bei der Niedersachsenwahl gesehen, also in einem westdeutschen Flächenland mit noch relativ starken intakten Parteibindungen, dass es der AfD gelingt, aus der Unsicherheit Profite zu erzielen. Insofern ging die Rechnung für die AfD auf, Ängste zu verstärken, neue Ängste zu schüren, und sich dabei Putin anzubiedern. Wie alle Parteien auch will sie bei den demoskopischen Sonntagsfragen möglichst gut dastehen. Anders als die anderen aber sie ist wenig daran interessiert, konkrete Probleme zu lösen.
Hinzu kommt: Ich glaube, dass der Krisenmodus, in dem sich die Politik nun schon seit einigen Jahren befindet, inzwischen der Normalmodus ist. Dies setzt viele demokratische Gewohnheiten und Entscheidungsprozesse ein Stück weit außer Kraft. Normalerweise haben die regierenden Parteien in Krisen aufgrund ihrer exekutiven Handlungsmöglichkeiten einen Vorteil.
Doch gilt dies auch noch in der Dauerkrise? Politikerinnen und Politiker warnen, dass es Wohlstandsverluste geben wird. Nur wer wird sie hinnehmen und verschmerzen können, weil er größere Rücklagen oder ein höheres Einkommen hat. Da sind wir wieder bei der angespannteren Situation im Osten, in dem westdeutsche Gewissheiten noch nie sonderlich Geltung beanspruchen konnten.
Welche Konsequenzen sollten Regierungen und Parteien aus den Demos ziehen?
Die Bilder von den aktuellen Demos sind ein Warnsignal, dass es zu einer explosiven Mischung auf der Straße kommen kann. Das Unzufriedenheitspotenzial ist groß, die Instrumentalisierungsgefahr durch Rechtsaußen beziehungsweise die AfD ist hoch. Wir wissen nicht, wie sich der Krieg, die Gaspreise und Inflation weiter entwickeln werden. Ich kann nur empfehlen, diese Lage ernst zu nehmen und sich differenziert anzuschauen, wo genau die Sorgen und Nöte liegen. Gerade die etablierten Parteien sollten mit Blick auf ihre jeweilige Klientel diese Themen zur Sprache zu bringen, dabei auch neue Wege jenseits eingetretener Pfade gehen und vor allem die Straßen und Plätze nicht den Demokratiefeinden überlassen.
Die Fragen stellte Lucas Riemer.
MDR (Lucas Riemer) | Erstmals veröffentlicht am 16.10.2022
Dieses Thema im Programm: MDR S-ANHALT | SACHSEN-ANHALT HEUTE | 16. Oktober 2022 | 19:00 Uhr
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