Wettin-Löbejün im Saalekreis Der Wahlsonntag in Wettin
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06. Juni 2021, 16:31 Uhr
Eine Erstwählerin, eine Familie, ein Vereinschef und ein Mann, der mit Hartz IV aufstocken muss: Sie waren am Sonntag im Saalekreis wählen – und erzählen, warum. Eine Reportage aus Wettin.
Cora Beyer, farblose Brille auf der Nase, ihre Haare sind leicht grün gefärbt, steigt die Stufen von der Saale zur Burg in Wettin hinauf. Sie ist auf dem Weg zum Wahllokal, das erste Mal überhaupt. Die 20-Jährige trägt eine Pumphose und eine Flasche Mate, erzählt, dass sie eigentlich den ganzen Tag im Wahllokal hatte verbringen wollen. "Ich wollte Wahlhelferin werden, weil es eine Impfung gab", sagt Cora. Doch es hatte zu viele Freiwillige gegeben, Cora wurde nicht gebraucht.
Also macht sie sich erst gegen halb 11 auf den Weg zum Wahllokal, die vielen Stufen aus Porphyr hinauf. Lediglich Vogelgezwitscher ist zu hören, wilde Rosen duften, ganz leise brummt die Wettiner Fähre unten auf dem Fluss. Ihre allererste Wahl hat Cora verpasst. Leider, wie sie sagt. Jetzt will sie wählen, einfach, "weil es die Möglichkeit dazu gibt und ich mich so ein bisschen einbringen kann". Außerdem findet sie es schade, wenn junge Menschen nicht wählen gehen. Sie nippt an ihrer roten Mate. Vor allem irritiert sie, wie sonst in Wettin abgestimmt wird – "Wettin ist halbe-halbe. 50 Prozent AfD, 50 Prozent CDU und andere", so Cora.
Stadt Wettin-Löbejün Die Stadt Wettin-Löbejün liegt im Saalekreis und ist 2011 aus dem Zusammenschluss der Städte Wettin, Löbejün und mehreren ehemals eigenständigen Gemeinden entstanden. In der Stadt leben insgesamt etwa 10.000 Einwohner, in Wettin weniger als 3.000.
Bürgerfernsehen merkt wenig von der Politik
Auch Jens Rudolph will heute abstimmen. Der 61-Jährige ist momentan Coras Chef. Sie macht ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) bei ihm im Offenen Kanal Wettin, dem Bürgerfernsehsender. Jens Rudolph, mit kleinem Bärtchen und Brille, hat den Offenen Kanal vor mehr als 20 Jahren gegründet. Wechsle die Regierung in Sachsen-Anhalt, bekomme das der Verein kaum mit, erzählt er. "Wir sind nichtkommerzielles Fernsehen, das von Bürgern für Bürger entsteht. Das Besondere in Sachsen-Anhalt ist, dass Bürgermedien politisch von einer recht breiten Front getragen werden. Im Westen ist das anders, weil da Bürgermedien eher links-alternativ sind." Das treffe in Sachsen-Anhalt nur auf einen freien Radiosender in Halle zu, sagt Rudolph.
Die Leute, die bei ihm Filme machen, würden das kaum aus politischer Motivation heraus tun. "Es sind hauptsächlich Medienfreaks, die Filmemachen super finden, die haben von Politik zum Teil keine Ahnung", sagt er mit einem Kopfschütteln. Jens Rudolph geht es um medienpädagogische Arbeit, seine jungen Azubis, FSJ-ler oder Europäische Freiwillige arbeiten zusammen mit Medienpädagogen und vielen Jugendlichen. Aus Wettin kommen die wenigsten. Und so trifft er auf dem Weg zum Wahlbüro auch keine bekannten Gesichter aus dem Offenen Kanal. Dafür sitzen seine Nachbarn im Wahlbüro als Wahlhelfer, jeder kennt jeden. "Wenn man älter wird, gewinnt das an Bedeutung, dieser Wahl-Akt, dass man den als Errungenschaft reflektiert", sagt Jens Rudolph.
"Da brennt zu Hause die Luft, wenn ich nicht wählen gehe"
Die Straßen sind an diesem schwülen Wahlsonntag in Wettin recht leer, nur ein paar Radler sind an der Saale unterwegs, dazu manches Rentner-Ehepaar und junge Familien. Jeder grüßt. Gefragt, warum sie sich auf den Weg zum Wahllokal gemacht haben, muss ein Paar Anfang 30 kurz überlegen. Er trägt die knapp zweijährige Tochter auf dem Arm mit kleinem Hut gegen die Sonne, seine Partnerin fragt: "Bin ich da nicht in der Pflicht als Sozialkundelehrerin? Als Vorbildfunktion?"
Ihr Mann erzählt amüsiert: "Da brennt zu Hause die Luft, wenn ich nicht gehe". Seine Lehrerin habe früher immer gesagt: "Hauptsache, ihr geht, auch wenn ihr eure Stimme ungültig macht." Zu Hause würden er und seine Frau sich über Politik unterhalten, im Internet Wahlprogramme lesen, Deutschlandfunk und Podcasts hören. Sie ist in Wettin aufgewachsen und arbeitet nun am Burggymnasium, er kam 2014 aus Halle dazu.
Aufstocken mit Hartz IV
In Wettin geboren ist Jürgen Höhne. Der 63-Jährige war schon sehr früh an diesem Sonntag im Wahllokal und setzt sich nun an die Saale. Er hat kurzes Haar, trägt ein Polo-Shirt mit Aufdruck und ist jung geblieben durch die Jugendlichen, mit denen er arbeitet. Der gelernte Koch ist engagiert und tough, hat aber Probleme, einen festen Job zu finden. Seit vielen Jahren arbeitet er in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, momentan über ein Programm der EU für über 58-Jährige. 20 Stunden pro Woche sind es, obwohl er viel mehr machen möchte, er muss mit Hartz IV aufstocken.
"Ich wollte eigentlich nicht wählen gehen", erzählt er, hat sich dann aber doch noch anders entschieden. "Weil die Umfragen einer gewissen Partei so hoch waren. Bei den Volksparteien muss sich aber auch etwas ändern", so Jürgen Höhne. Er selbst war 20 Jahre in der SPD. "Ich bin ausgetreten, weil sie in Thüringen mit der Linken zusammengegangen sind. Das wollte ich nicht, das hatte ich jahrelang." Er erinnert sich noch sehr genau an die Wahlen zu DDR-Zeiten. "Im Osten wurden wir ja gezwungen, wählen zu gehen. Ich war Sonntag arbeiten, da standen sie vor Mittag schon da, wann ich wählen gehe. Das vergesse ich nie."
11 Uhr: Wahlvorsteher mit Wahlbeteiligung zufrieden
Die Erstwählerin Cora Beyer wurde erst 2001 geboren. Sie kennt solche Überlegungen nicht. Cora läuft nun auf die rote Glastür des Horts zu, in dem ihr Wahlbüro untergebracht ist. An den Scheiben kleben große, gebastelte Schmetterlinge. Eine Wahlhelferin mit Maske bittet sie, sich die Hände zu desinfizieren, dann geht Cora hinein. Sie zeigt ihren Ausweis, aber die nächste Wahlhelferin sagt: "Du brauchst keinen Ausweis, ich kenne dich doch, ich weiß, wer du bist." Cora wird abgehakt, dann verschwindet sie im nächsten Raum.
Du brauchst keinen Ausweis, ich kenne dich doch, ich weiß, wer du bist.
Der Wahlvorsteher erzählt derweil, dass bis um 11 etwa ein Viertel der Wahlberechtigten für Coras Wahlbüro schon da waren. "Wir können zufrieden sein mit dem augenblicklichen Stand", sagt er. Etwa 300 Wähler hätten per Briefwahl abgestimmt, knapp über 1.000 könnten an diesem Wahlsonntag in den Hort kommen. Cora will bei der nächsten Wahl dann auf jeden Fall als Wahlhelferin dabei sein. "Das mache ich nächstes Mal, auch wenn es keine Impfung dazu gibt", erzählt sie mit einem Augenzwinkern. Zur Bundestagswahl im September hat sie dazu bereits Gelegenheit.
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MDR/Luise Kotulla
Dieses Thema im Programm: MDR Extra – Die Entscheidung in Sachsen-Anhalt | 06. Juni 2021 | 17:45 Uhr