Analyse und Einordnung Corona-Proteste: Fünf Wahrheiten über die Berichterstattung
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21. Mai 2020, 18:35 Uhr
Medien sind Teil des Systems, das Verschwörungserzähler oder Extremisten bekämpfen wollen. Warum und wie MDR SACHSEN-ANHALT in einer Themenwoche trotzdem über Corona-Demonstrationen und die Kritik an den Corona-Maßnahmen berichtet.
Inhalt des Artikels:
- 1. Wir setzen uns kritisch mit den Corona-Demos auseinander
- 2. Wir vermeiden die Pauschalisierung aller Kritiker
- 3. Wir gehen ernsthafter Kritik nach und hinterfragen die Corona-Maßnahmen – #mdrklärt
- 4. Wir prüfen und bewerten die (oft kritisierten) Zahlen immer wieder neu
- 5. Wir sind nicht allwissend
Die Überschrift wird triggern. Ich ahne es. "Aha! Alles andere ist sonst also gelogen! Warum sollte die Wahrheit sonst angekündigt werden? Wusste ich's doch! Was anderes können die Merkel-Knechte doch nicht! Lügen! Alles Lügen!"
So oder so etwas Ähnliches werden einige Kommentierende unter diesem Artikel schreiben. Oder sie werden es nur denken und nicht schreiben, weil sie die einleitende Annahme nicht stützen wollen. Oder ich täusche mich und bin durch das Lesen unzähliger solcher Kommentare in den vergangenen Tagen mit Vorurteilen behaftet.
Mit dem Grund, warum ich diese Überschrift gewählt habe, verhält es sich ähnlich wie mit dem Grund, warum wir in dieser Woche schwerpunktmäßig über die Corona-Proteste berichten: Nicht, um zu triggern, sondern um zu schildern, zu erklären, zu verstehen.
Denn weder stehen einzelne Hasskommentierende für unsere ganze Community, noch stehen einzelne Verschwörungserzähler oder Extremisten für ernsthafte Kritik an den Corona-Maßnahmen. Und genau diese ernsthafte Kritik wollen wir bei MDR SACHSEN-ANHALT nicht ignorieren, sondern uns damit auseinandersetzen – und zwar in einer Themenwoche. Es ist unsere Aufgabe, das Handeln der Politik in der Corona-Krise und die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen stets kritisch zu hinterfragen.
Fünf Wahrheiten zu unserer Berichterstattung über die Corona-Proteste:
1. Wir setzen uns kritisch mit den Corona-Demos auseinander
"Themen-Schwerpunkt? Zu viel der Ehre." – "Meine Anregung: Ignorieren!" Das waren nur zwei der Reaktionen auf unsere Ankündigung, zu den Corona-Protesten eine Themen-Woche zu machen. Uns ist aufgrund repräsentativer Umfragen bewusst, dass die Mehrheit der Bevölkerung die geltenden Corona-Maßnahmen für richtig hält. Doch weil die Demonstrationen in manchen Regionen regen Zulauf erfahren, war uns wichtig, zu verstehen, was dahinter steckt.
Entscheidend dabei: Gefahren für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung zu benennen. Diese Gefahren lassen wir Experten einschätzen. Den Menschen muss bewusst sein, mit wem sie teilweise Seite an Seite demonstrieren und wem sie applaudieren: Extremisten. Und ihnen sollte bewusst sein, wie widersprüchlich es ist, mit solchen Leuten für Grundrechte einzustehen.
Wir setzen also uns kritisch mit den Corona-Demos auseinander – genau so wie mit den Corona-Maßnahmen der Politik.
2. Wir vermeiden die Pauschalisierung aller Kritiker
Wichtig ist: Nicht alle Demo-Teilnehmer oder Kritiker der Corona-Maßnahmen hängen Verschwörungserzählungen an, sind Impfgegner oder Extremisten. Viele Menschen haben Angst vor einer wirtschaflich ungewissen Zukunft. Viele Menschen sind persönlich von Krisen-Maßnahmen betroffen. Viele Menschen sorgen sich um andere. Ihnen müssen wir zuhören, ihnen hören wir zu – seit Beginn der Corona-Krise und auch jetzt im Rahmen der Corona-Proteste.
Politikwissenschaftler Michael Böcher aus Magdeburg sagt: "Was ich nicht gut finde: Wenn die Gegner der Corona-Maßnahmen pauschal in eine bestimmte Ecke gestellt werden. Es gibt durchaus berechtigte Kritik an der Beschränkung von Grundrechten. Da würde ich mir eine Aufklärungsfunktion gerade der öffentlich-rechtlichen Medien wünschen. Dass sie eben klar machen: Natürlich waren diese Einschränkungen sehr hart, aber sie waren eben auch angemessen aus diesen und jenen Gründen."
Menschen, die Verschwörungsmythen verbreiten, geben wir in der Themen-Woche keine Bühne. Mit ihnen zu diskutieren, schafft keine Lösungen. Schließlich sind wir bei MDR SACHSEN-ANHALT in ihren Augen ein Teil des Sytems, das sie bekämpfen. Stattdessen analysieren wir und ordnen ein. Denn Verschwörungserzählungen unerwähnt zu lassen, wurde ihnen nur Legitimität verleihen. Schließlich verbreiten sie sich durch soziale Netzwerke und prominente Fürsprecher mehr denn je.
Eine plausible Antwort auf die Frage, warum Bill Gates hinter dieser ganzen Corona-Krise stecken soll, habe ich im Rahmen meiner Recherche trotz mehrfachen Nachfragens übrigens von keinem der Anti-Gates-Hetzer erhalten.
Den Argumenten von Impfgegnern geben wir im Zusammenhang mit der Berichterstattung über die Corona-Proteste schon deshalb keinen breiten Raum, weil es schlicht keine Bestrebungen gibt, eine Impfpflicht einzuführen – auch wenn auf Demos vehement das Gegenteil behauptet wird. Über einen vorgeschlagenen Immunitätsausweis ist allerdings zu diskutieren.
3. Wir gehen ernsthafter Kritik nach und hinterfragen die Corona-Maßnahmen – #mdrklärt
Analyse und Einordnung mit sachlichen wie wissenschaftlichen Argumenten – darum geht es in unserer Rubrik #mdrklärt auf Instagram und unsere Website. So sind wir in dieser Woche beispielsweise auf vier der größten Kritikpunkte der Corona-Protestler eingegangen:
Viele Corona-Demonstranten geben zudem an, für die Grundrechte auf die Straße zu gehen. Wir haben uns also angeschaut, welche Grundrechte durch die Corona-Verordnungen in Sachsen-Anhalt eingeschränkt wurden und wodurch genau:
4. Wir prüfen und bewerten die (oft kritisierten) Zahlen immer wieder neu
Ein Kritiker der Corona-Maßnahmen sagte uns im Rahmen der Recherche über Corona-Proteste: "Ich habe manchmal das Gefühl, dass sich die Zahlen nach der Politik richten und nicht andersherum."
Selten zuvor waren Zahlen so eng verknüpft mit politischen Entscheidungen – und selten zuvor war das Interesse der Bevölkerung an Zahlen so groß. Oder haben Sie sich in den vergangenen Jahren schon einmal mit der Reproduktionszahl oder Verdopplungsrate beschäftigt?
Deshalb legen wir auf Daten einen besonderen Fokus. Seit Beginn der Corona-Epidemie in Deutschland präsentieren wir Ihnen regelmäßig die wichtigsten Zahlen und Entwicklungen in unserem Corona-Daten-Update.
Unser Datenjournalist Manuel Mohr erklärt, welche Quellen verlässlich sind und anhand welcher Kriterien er die Zahlen hinterfragt:
"Wir greifen die Daten nicht einfach nur ab"
Manuel, wie gehen wir mit Kritik an Corona-Zahlen um?
Manuel Mohr: Grundsätzlich habe ich seit Beginn der Corona-Epidemie in Deutschland jede Kritik – ob sachlich oder nicht – , die mich bezüglich der Corona-Daten erreicht hat, zur Kenntnis genommen und überprüft. Oftmals ging es dabei um Verständnisprobleme, die durch eine kurze Mail gelöst werden konnten. Denn verständlicherweise hat nicht jeder die Zeit, sich mit den Berechnungsmodelle einer Reproduktionszahl auseinanderzusetzen.
Für mich ist das mein Job: Einerseits alle verfügbaren und relevanten Daten zu sammeln, analysieren und visualisieren. Und andererseits – das hat sich in den vergangenen Wochen immer wieder gezeigt – diese Zahlen nicht einfach nur zu präsentieren, sondern einzuordnen. Was sagen die Daten aus? Was nicht? Wie wurden sie erhoben? Welche Einschränkungen sind zu berücksichtigen?
Auf Demos heißt es manchmal: Die Zahlen werden von Politik und Medien so dargestellt, um die Maßnahmen zu rechtfertigen. Was denkst du darüber?
Dieser Vorwurf ist aus meiner Sicht haltlos. Einen großen Teil unserer Berichterstattung macht es aus, dass wir darauf hingewiesen haben, welche Zahlen welche Aussagekraft haben. Und dass es eben nicht die eine goldene Maßzahl gibt, die darüber entscheidet, ob Maßnahmen zur Eindämmung des Virus notwendig sind oder nicht.
Ein Beispiel: Als Mitte April Bund und Länder über erste Lockerungen beraten haben, hatten wir einen Tag davor einen ausführlichen Artikel, in dem abgewogen wurde, welche Daten für oder gegen Lockerungen sprachen.
Inwieweit hinterfragen wir die Corona-Maßnahmen anhand der Zahlenbasis?
Kritisches Hinterfragen ist ebenfalls fester Bestandteil unserer Jobs. Beim Sozialministerium Sachsen-Anhalt rollen sie wahrscheinlich schon mit den Augen, wenn meine Nummer mal wieder im Display leuchtet, weil ich in den vergangenen Wochen so viele Nachfragen zu den veröffentlichten Corona-Daten hatten.
Oder als Magdeburgs Oberbürgermeister Ende April auf einer Pressekonferenz eine eigene Berechnung zu aktiven Corona-Fällen in der Landeshauptstadt vorlegte und keiner der anwesenden Journalisten dazu Nachfragen hatte, habe ich mir am Tag darauf in einem längeren Telefonat von OB Trümper darlegen lassen, wie genau er diese Rechnung angestellt und welche Aussagekraft das Ganze hat.
Meine Aufgabe sehe ich im Hinterfragen der Zahlen, nicht der damit begründeten Maßnahmen. Denn die Daten bilden die Basis. Und nur, wenn diese Basis solide, stichhaltig und nachvollziehbar ist, können darauf aufbauend auch gute Entscheidungen getroffen werden.
Aus welchen Quellen beziehen wir die Corona-Zahlen?
Zur Betrachtung der Corona-Lage nutzen wir mittlerweile über 20 verschiedene offizielle Quellen. Dazu gehören auf regionaler Ebene die täglichen Meldungen aller Landkreise und kreisfreien Städte, auf Landesebene die Daten des Sozialministeriums und des Landesamts für Verbraucherschutz und auf Bundesebene Zahlen des DIVI-Intensivregisters und des Robert Koch-Instituts.
Letzteres wurde kürzlich auch in einem offenen Brief – unterzeichnet von über 40 Datenjournalistinnen und -journalisten aus ganz Deutschland – dazu aufgefordert, alle verfügbaren Daten in der bestmöglichen Variante für unsere Arbeit zur Verfügung zu stellen. Auch hier greifen wir also die Daten nicht einfach nur ab, sondern setzen uns dafür ein, dass wir die bestmögliche Basis bekommen, um durch unsere Arbeit die Menschen noch besser informieren zu können.
Wie bewerten wir, welchen Zahlen wir vertrauen können?
Entscheidend ist, wie transparent die Quellen ihre Arbeit machen. Beim deutschen Gesundheitswesen ist beispielsweise klar geregelt, wie positive Corona-Tests über verschiedene Meldestationen schließlich beim RKI landen. Da kann ich an mehreren Stellen – Gesundheitsamt, Landesbehörde, RKI – schauen, welche Daten verfügbar sind. Ich kann da beispielsweise auch anrufen und hinterfragen, warum Daten noch nicht verfügbar sind, warum sich etwas geändert oder ob es noch weitere Veröffentlichungen gibt.
Fehlt diese Transparenz, sei es bei einer offiziellen Behörde oder einem Youtuber, ist grundsätzlich Vorsicht geboten. Wenn nicht plausibel erklärt werden kann, wie Zahlen erhoben und verarbeitet wurden, eignen sie sich nicht für eine seriöse Berichterstattung.
5. Wir sind nicht allwissend
Mein Kollege Stephan Schulz hat am Rande der Corona-Demonstration am vergangenen Wochenende einen schönen Satz gesagt: "Wir müssten eigentlich immer unser riesiges Archiv im Kopf dabei haben."
Wir können nicht alle Zahlen und Daten und Verwinkelungen der Verordnungen der vergangenen Wochen immer sofort parat haben. Im Gegensatz zu so manchen Verschwörungserzählern übrigens, die den Anschein erwecken wollen, allwissend zu sein und durch unbelegbare Schlussfolgerungen einfache Erklärungen liefern zu können, nach denen sich alle sehnen. Die gibt es in der Corona-Pandemie aber nicht.
Deshalb nehmen wir uns dagegen Zeit, um Quellen zu prüfen, um gründlich zu recherchieren und dementsprechend zu berichten. Und wir sind im Austauch mit unseren Nutzern, machen unsere Arbeit transparent, auch mit diesem Artikel. Wir nehmen Kritik auf und fragen nach Ihrem Feedback. Denn wir wissen, dass Hasskommentierende zwar sehr laut sind – aber in der Minderheit.
Hintergründe und Aktuelles zum Coronavirus – unser Newsletter
In unserem Newsletter zur Corona-Lage in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen fassen wir für Sie zusammen, was am Tag wichtig war und was für Sie morgen wichtig wird.
Das Corona-Daten-Update – montags bis freitags um 20 Uhr per Mail in Ihrem Postfach. Hier können Sie den Newsletter abonnieren.
Über den Autor
Daniel George wurde 1992 in Magdeburg geboren. Nach dem Studium Journalistik und Medienmanagement zog es ihn erst nach Dessau und später nach Halle. Dort arbeitete er für die Mitteldeutsche Zeitung.
Vom Internet und den neuen Möglichkeiten darin ist er fasziniert. Deshalb zog es ihn im April 2017 zurück in seine Heimatstadt, in der er seitdem in der Online-Redaktion von MDR SACHSEN-ANHALT arbeitet – als Sport-, Social-Media- und Politik-Redakteur, immer auf der Suche nach guten Geschichten, immer im Austausch mit unseren Nutzern.
Quelle: MDR/dg
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 20. Mai 2020 | 19:00 Uhr
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