Leben ohne Gehör Tauber aus Köthen: "Wir leben nicht in einer stillen, sondern einer sehr bunten Welt"

04. Februar 2023, 16:08 Uhr

Die Familie von Henry Niekrawietz ist seit Generationen taub. Wie geht die hörende Gesellschaft mit tauben Menschen um? Der 43-Jährige aus Köthen beantwortet diese Frage mit erschreckenden Erfahrungsberichten – doch er hat auch Hoffnung.

MDR San Mitarbeiter Daniel George
Bildrechte: MDR/punctum.Fotografie/Alexander Schmidt

  • Henry Niekrawietz aus Köthen ist von Geburt an taub. Seiner Familie geht es seit Generationen so. Das Leben seiner Familie unterscheide sich dennoch kaum von dem einer hörenden, erklärt der 43-Jährige.
  • Doch natürlich: Es gibt Herausforderungen. Zum Beispiel im Umgang mit Ämtern oder während alltäglicher Begegnungen mit hörenden Menschen.
  • Er wünscht sich, dass Gebärdensprache mehr Akzeptanz findet und es mehr Respekt für die Gehörlosen-Kultur gibt.
  • Immerhin: Trotz anfänglich großer Schwierigkeiten habe die Corona-Pandemie am Ende doch einen kleinen Fortschritt mit sich gebracht.

Eigentlich war es eine ganz normale Begegnung im Aufzug. Plötzlich sah Henry Niekrawietz, damals noch Jugendlicher, wie ihn die Frau neben ihm ansprach. "Als ich sie darauf hingewiesen habe, dass ich taub bin, war sie ganz geschockt und wollte mir eine kleine Spende zukommen lassen", blickt der heute 43-Jährige auf das Aufeinandertreffen während seines Urlaubs zurück. "Ich war ganz perplex."

Seine Schlussfolgerung, nicht nur aus dieser Begegnung: "Oft herrscht noch das Bild in den Köpfen vor, dass nur Menschen, die sprechen können, auch gesund sind." Deshalb erklärt der taube Mann aus Köthen auch: "Die Herausforderungen als tauber Mensch sind für mich vor allem das Unterschätzt-Werden von der Gesellschaft und die Mitleidsbekundungen vieler Menschen."

In der Vergangenheit habe er diesbezüglich schon viel erlebt. Henry Niekrawietz verrät: "Das ging tatsächlich teils mit dem buchstäblichen Über-den-Kopf-Streicheln einher."

Wir tauben Menschen sind ja keineswegs sprachlos. Wir haben eine Sprache!

Henry Niekrawietz, Tauber aus Köthen

Familie seit Generationen taub

In Deutschland leben laut dem Deutschen Gehörlosen-Bund etwa 80.000 taube Menschen. Wie geht die hörende Gesellschaft mit Tauben um? Es ist eine Frage, die Henry Niekrawietz tief beschäftigt. Schließlich ist die Antwort auch Teil seiner eigenen Lebensgeschichte. Von Geburt an ist der heute 43-Jährige taub. Genau wie seine Eltern, seine Partnerin, sein Sohn, sein Schwager, seine Schwägerin, seine Nichten und Neffen.

"Ich würde behaupten, dass wir ein ziemlich normales Familienleben führen und könnte da keinen Unterschied zu hörenden Familien festmachen", schreibt Henry Niekrawietz. Die Fragen von MDR SACHSEN-ANHALT beantwortet er teils vorab schriftlich, teils mit Hilfe einer Gebärdendolmetscherin im Gespräch bei seinem Besuch im Landesfunkhaus Magdeburg.

Ich würde behaupten, dass wir ein ziemlich normales Familienleben führen und könnte da keinen Unterschied zu hörenden Familien festmachen.

Henry Niekrawietz

Er erklärt: "Meine Familie ist bereits seit Generationen taub. Da Taubheit für meine Eltern nichts Unbekanntes war, haben sie sich auch nicht die Frage gestellt, ob es damit Schwierigkeiten geben würde. Für sie war auch von Anfang an klar, dass sie ein taubes Kind haben werden, das ein normales Leben führen kann." Und: "Beim Aufwachsen habe ich mich zu anderen Kindern nur darin unterschieden, dass ich nicht hören konnte." Und das sei für ihn ja normal.

#MDRklärt: Henry Niekrawietz gebärdet Dialekte

Ende Januar war Henry Niekrawietz im Landesfunkhaus von MDR SACHSEN-ANHALT in Magdeburg zu Gast. Für das Format #MDRklärt gebärdete der 43-Jährige verschiedene Dialekte. Mit Hilfe einer Gebärdendolmetscherin stand er außerdem für ein Interview zur Verfügung.

Schwierigkeiten mit den Ämtern

Doch natürlich: Es gibt Herausforderungen. Seine Familie organisiere ihren Alltag zwar sehr ähnlich wie hörende Familien – stoße allerdings oft auf Barrieren. "Wir benötigen oft eine Verdolmetschung, was Dinge dann oftmals in die Länge ziehen kann", so Niekrawietz. "Der Zeitfaktor ist zwischen Hörenden und Tauben schon ein großer Unterschied."

Zum Beispiel, wenn es um den Austausch mit den Ämtern geht. Henry Niekrawietz ist Vater eines 15 Jahre alten Sohnes: "Er ist ein toller Kerl und ich bin sehr stolz auf ihn." Sein Sohn ist ebenfalls taub. Und: "Manche Sachbearbeiter haben wenig Ahnung vom Taubsein und den Rechten bezüglich Gebärdensprachdolmetschenden. Kürzlich sagte eine Sachbearbeiterin vom Jugendamt zu mir, dass ich die Kosten für die Gebärdensprachdolmetschenden übernehmen soll. Im Gesetz steht aber, dass die Ämter die Einsätze übernehmen sollen. Ich musste dann alles erklären und das Problem konnte gelöst werden."

Generell habe er Schwierigkeiten mit Briefen oder Formularen von Ämtern. Denn: "Die Deutsche Schriftsprache ist nicht meine Muttersprache. Die Gebärdensprache, die seit 2002 als eigenständige Sprache anerkannt ist, hat eine eigene Grammatik und unterscheidet sich erheblich von der Deutschen Schriftsprache." Deshalb müsse er sich oft nachversichern oder die Ämter mit Hilfe eines Tess-Relay-Dienstes erreichen, um beim Inhalt sicherzugehen.

Was ist ein Tess-Relay-Dienst?

Die Tess-Relay-Dienste sind ein bundesweiter Telefonvermittlungsdienst für hör- und sprachbehinderte Menschen. Professionelle Dolmetscher übersetzen Telefoninhalte simultan von Deutscher Gebärdensprache (DGS) und Schriftsprache in deutsche Lautsprache und umgekehrt. Dadurch können hör- und sprachbehinderte Menschen eigenständig telefonieren.

Beschimpfungen auf der Straße

Abgesehen vom Umgang mit Ämtern habe er ganz unterschiedliche Erfahrungen mit der hörenden Gesellschaft gemacht, schreibt Henry Niekrawietz und schildert ein Beispiel: "In einer Situation war ich mit einem hörenden Freund unterwegs, der Gebärdensprache kann. Wir gebärdeten also miteinander, als ein Fahrrad von hinten ankam und wild klingelte. Mein Freund reagierte nicht sofort, daher rief der Radfahrer 'Hey, geht zur Seite!' und schob ein paar Beleidigungen hinterher. Als er uns schließlich überholte, ließ er noch ein paar Schimpfworte fallen."

Taube Personen würden das Klingeln ja grundsätzlich nicht mitbekommen, gibt Niekrawietz zu bedenken. "Anschließend ist mir klar geworden, wie oft ich wahrscheinlich in ähnlichen Situationen schon beschimpft und beleidigt worden bin, ohne dass ich es bemerkt habe", so der Familienvater. "Diese Erkenntnis war auch sehr schlimm für mich."

Anschließend ist mir klar geworden, wie oft ich wahrscheinlich in ähnlichen Situationen schon beschimpft und beleidigt worden bin, ohne dass ich es bemerkt habe.

Henry Niekrawietz

Trotzdem spürt der 43-Jährige eine Entwicklung: "Heute sind viele Menschen bezüglich des Umgangs mit tauben Menschen im Vergleich zu vor zehn Jahren sensibilisiert. Das freut mich."

Doch dann kommt das Aber: "Ich merke oft, dass viele Menschen leider noch kaum ein Bild von unserer Gebärdensprache und damit verbundenen tauben Kultur haben. Sie haben oftmals die Vorstellung, dass wir in der Stille leben. Dieses Wort kann ich schon nicht mehr lesen. Wir leben nicht in einer stillen, sondern sehr bunten Welt."

"Wir haben eine Sprache!"

Was seine Welt so bunt macht? Henry Niekrawietz veranschaulicht das so: "Oftmals wurde ich schon gefragt, ob ich denn nichts vermisse, beispielsweise die Vögel zwitschern zu hören." Er entgegne dann: "Ich bin taub geboren und meine Welt nehme ich über den visuellen Kanal wahr. Die Vögel zeigen viel mehr als nur den Ton, wenn sie zum Beispiel ganz aufgeregt hüpfen, sich selbst putzen oder kurz flattern, uns mit neugierigem, putzigem Blick anschauen."

Sein Wunsch: Gebärdensprache solle von Hörenden als "richtige" Sprache anerkannt werden. Denn: "Wir tauben Menschen sind ja keineswegs sprachlos. Wir haben eine Sprache!"

Barrierefreiheit

Gebärdendolmetscherin vor grüner Wand
Bereits ab 1. Oktober kann die Sendung "Einfach genial" in der ARD Mediathek barrierefrei abgerufen werden. Bildrechte: MDR/Stephan Flad

Doch sein Leben lang habe er von hörenden Menschen gesagt bekommen, dass es nicht normal sei, ein Leben zu führen, ohne dabei zu sprechen. "Dabei hat das Sprechen für mich absolut keinen Mehrwert im Vergleich zu meiner Muttersprache", erklärt Henry Niekrawietz. "Ich kann fließend gebärden und dementsprechend auch problemlos in einer Sprache kommunizieren. Uns muss nur bewusst sein, dass Hörende und Taube eben in zwei verschiedenen Sprachen kommunizieren."

Als Vorsitzender des "Gebärdensprachfreunde-Sport-Kultur Köthen e.V." setzt er sich deshalb dafür ein, Brücken zwischen Hörenden und Hörgeschädigten zu bauen. Außerdem arbeitet er als Gebärdensprachdozent und gibt als solcher zum Beispiel Hausgebärdenkurse für taube Kinder, die hörende Eltern haben. An der Volkshochschule gibt er außerdem Gebärdensprachkurse für hörende Teilnehmende.

Gebärdensprache 2021 als Immaterielles Kulturerbe anerkannt

Die Deutsche Gebärdensprache (DGS) wurde im März 2021 zum Immateriellen Kulturerbe erklärt und damit von der Deutschen Unesco-Kommission als "soziales und kulturelles Fundament der deutschen Gehörlosengemeinschaft" anerkannt.

Der Wortschatz der DGS umfasst 250.000 Gebärden. Dennoch handelt es sich nicht etwa um eine Zeichensprache, sondern um eine eigene Sprache mit eigener Grammatik. So existiert in jedem Land eine nationale Gebärdensprache, in der wiederum regionale Dialekte existieren. Im Gegensatz zur Lautsprache fordert sie ständigen Blickkontakt und verlegt die Bedeutung des Lautes auf die von Mimik und Gestik. Auch Hörende können sie erlernen und so Barrieren überwinden helfen.

Wunsch: Gehörlose übernehmen Aufklärung

Henry Niekrawietz wünscht sich, dass das Taub-Sein weniger als Krankheit wahrgenommen wird. "Bei der Aufklärung durch Ärzte liegt der Fokus oftmals auf dem Hören und Sprechen", schreibt er. "Die Gebärdensprache sowie taube Kultur werden einfach ignoriert oder nicht wichtig genommen."

Deshalb sei es enorm wichtig, dass zum Beispiel Eltern hörgeschädigter Kinder "erfahren, dass Taubheit kein Weltuntergang, sondern einfach halt etwas anderes ist", so Niekrawietz. "Die Beratung sollten taube Personen übernehmen und über unsere Gebärdensprache und Kultur aufklären. Es ist wichtig, dass die tauben Personen selbst von ihren Erfahrungen berichten und dass nicht, wie bisher oft, hörende Personen mit angelesenem Wissen darüber erzählen."

Denn der 43-Jährige meint: "Die Gesellschaft übergeht taube Menschen leider sehr oft." Sein Beispiel: ein hörender Schauspieler, der einen Gehörlosen spielt. Niekrawietz schreibt: "Die Rollen werden mit einem komplett falschen Verständnis von tauben Menschen und ihrer Kultur dargestellt. Das ist mir bereits in vielen Filmen aufgefallen. Der hörende 'Taube' kann dann plötzlich im Gespräch mit einer anderen Person problemlos deren Lippen ablesen. Das entspricht einfach nicht der Realität." Denn das Lippenlesen ist bei Tauben ganz unterschiedlich ausgeprägt. "Das enttäuscht mich sehr oft, wenn ich so etwas wieder in einem Film entdecke."

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Bildrechte: MDR/Frank Koschewski

Maskenpflicht als Herausforderung

Wie die hörende Gesellschaft mit tauben Menschen umgeht, ist seiner Meinung nach also ausbaufähig. Das habe auch die Corona-Pandemie zunächst gezeigt. Henry Niekrawietz blickt zurück: "Als die Maskenpflicht eingeführt wurde, waren alle zunächst ziemlich aufgeschmissen." Denn: "Das hat uns klar vor Augen geführt, wie wichtig das Gesicht für die Kommunikation in Gebärdensprache ist."

Schritt für Schritt habe es aber Lösungen gegeben – zum Beispiel in Form von durchsichtigen Masken. Videokonferenzen ersetzten Termine vor Ort. So war allerdings kein Lippenlesen mehr möglich. "So waren alle gezwungen, endlich für alle Veranstaltungen, Sitzungen und Gespräche einen Dolmetscher hinzuzuziehen", so Niekrawietz. "Das war eine positive Entwicklung."

Doch er weiß: "Bis alles vollständig für uns zugänglich ist, braucht es sicher noch etwas Zeit." Und bis dahin würde es ihn schon freuen, wenn zumindest die Mitleidsbekundungen und das Unterschätzt-Werden aufhören würden.

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MDR (Daniel George)

Dieses Thema im Programm: #MDRklärt | 06. Februar 2023 | 15:30 Uhr

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