Studierende schreiben für den MDR Grünes Bitterfeld: Wie sich die Natur ihren Platz zurückerobert
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11. Dezember 2022, 11:22 Uhr
Bitterfeld ist seit Jahrhunderten geprägt von menschlichen Eingriffen in die Natur. Braunkohleabbau und Chemieindustrie haben die ursprüngliche Landschaft erheblich verändert – viel Natur wurde ausgelöscht. Die mittlerweile wieder grüne Stadt scheint sich von ihrer Vergangenheit jedoch erholt zu haben. Wie konnte das gelingen? Ein Gastbeitrag einer Studentin aus Halle.
Dieser Text ist im Rahmen des Projekts "Studierende schreiben" in Zusammenarbeit mit der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg entstanden.
- Braunkohleabbau und Chemieindustrie haben die Natur in und um Bitterfeld verändert – vieles wurde unabänderlich ausgelöscht.
- Überbleibsel des Braunkohleabbaus wie der Tagebau Goitzsche konnten mittlerweile jedoch erfolgreich renaturiert werden.
- Auf brachliegenden, aktuell nicht nutzbaren alten Chemiemülldeponien, die sich in der Sanierung befinden, renaturiert sich die Natur auch ohne menschliches Eingreifen.
Von Pflanzen umwuchert ist das Eingangstor der Grube Greppin, am Stadtrand nahe dem Chemiepark gelegen. Bis auf wenige Geräusche von den umliegenden Fabriken ist es ruhig und es sind vor allem Vögel zu hören. Wo bis 1931 Braunkohle abgebaut und bis 1996 Abfälle der Chemieindustrie landeten, erstreckt sich heute eine große Rasenfläche. Am Rand stehen einige Bäume, wilde Natur schlängelt sich ringsherum.
Dass sich die Landschaft an Orten wie der Grube Greppin von Eingriffen der Vergangenheit erholt hat und vieles heute so grün ist, ist zum Teil menschlichen Bemühungen, vor allem aber der Natur selbst zu verdanken.
Vieles ist einfach eine natürliche Entwicklung. Das ist sehr spannend, weil man daran sieht, was die Natur für eine Kraft hat.
Vom Auwald zur Seelandschaft – der Goitzsche Tagebau
Das, was heute als der Goitzschesee bekannt ist und sich zu einer der wichtigsten Attraktionen der Stadt etabliert hat, war rund 100 Jahre lang Braunkohleabbaugebiet. Von dem einstigen Auwald um die Mulde herum ist nichts mehr zu sehen. Für den Braunkohleabbau wurde die ganze Landschaft umgegraben, der Auwald abgeholzt.
Nach der Einstellung des Braunkohleabbaus 1991 blieb ein Tagebaurestloch zurück – die Goitzsche. Diese hinterlassenen Spuren in der Landschaft eignen sich besonders gut für die Nachnutzung als Seen, weiß Frank Koch, ehrenamtlicher Mitarbeiter beim Regionalverband Botterfeld-Wolfen des Naturschutzbund Deutschland (NABU). Koch engagiert sich für den Erhalt bedrohter Lebensräume und die Tier- und Pflanzenvielfalt. Nachdem die Fläche saniert wurde, wurde der ehemalige Tagebau geflutet und der Goitzschesee mit der umliegenden Goitzsche-Wildnis geschaffen. Im Vergleich zu künstlich angelegten Seen ist der Goitzschesee sehr viel größer und tiefer. So sinkt Schlamm, der in kleineren Seen ein Sauerstofffresser ist, nach unten, ist dort gebunden und kann keinen Sauerstoff rauben. Zudem ist er sehr sauber und bleibt das aufgrund seines sauren pH-Wertes auch – gute Voraussetzungen für eine erfolgreiche Renaturierung.
Die Landschaft, die es früher war, kann der Mensch nicht rekonstruieren. Das ist nach der Eiszeit über viele Jahrtausende entstanden und so was kann man nicht wiederbeleben.
Zwar ist die Natur, die zuvor auf der Fläche bestand, zerstört und verloren, dafür zieht die neu gewonnene Seenlandschaft neue Arten an. Vor allem Möwen, Kormorane und Enten, aber auch Tiere wie Biber leben hier. "Das sind schon Sachen, von denen konnten wir früher als Naturschützer nur träumen", schwärmt Frank Koch.
Um die neu entstandene Natur zu schützen und deren Entwicklung zu unterstützen, kaufte der BUND in den Jahren 2000 bis 2004 mithilfe von Spendengeldern rund 1.300 Hektar der Fläche zwischen Bitterfeld und Delitzsch, auf der sich die Natur frei entfalten kann – die Goitzsche-Wildnis.
Giftiges Erbe
Doch nicht alle Tagebaurestlöcher können auf diese Weise renaturiert werden. Grund dafür sind vermeintlich vergangene Relikte der damals ansässigen Chemieindustrie: Viele der Gruben wurden unsachgemäß als Deponien für Chemiemüll missbraucht. So gelangten Schadstoffe in den Boden, die bis ins Grundwasser vorgedrungen sind. Mit der Beseitigung dieser Schäden ist die Stadt bis heute beschäftigt.
Das Dilemma des bitterfelder Giftmülls
Das Dilemma des bitterfelder Giftmülls
Das ökologische Großprojekt Bitterfeld-Wolfen, welches von der Landesanstalt für Altlasten durchgeführt wird, soll den durch Chemiemüll verursachten Grundwasserschaden sanieren und absichern. Das Projekt umfasst eine Fläche von 1.300 Hektar. Das Dilemma um den Giftmüll in Bitterfeld ergibt sich daraus, dass er nicht einfach ausgehoben und entsorgt werden kann. Steigt das Grundwasser an, so stellt er wieder eine Gefahr dar. Deshalb zielt das Projekt vor allem darauf ab, die Grundwasserstände zu überwachen und das Grundwasser gegebenenfalls abzusenken.
Viele dieser alten Deponien befinden sich noch in der Sanierung beziehungsweise Sicherung und können bislang keiner konkreten Nachnutzung zugeführt werden, berichtet Kai Ellwert. Er ist Fachdienstleiter für Abfallwirtschaft, Bodenschutz und Chemikalienrecht der unteren Bodenschutzbehörde des Landkreis Anhalt-Bitterfeld. Wie genau es mit diesen Flächen nach der Sanierung weitergeht, ist noch unklar. Einen übergeordneten Masterplan gebe es nicht, zunächst gehe es vor allem um Gefahrenabwehr. Je nach Fläche könnten dann Konzepte erarbeitet werden, wie und ob eine Nachnutzung möglich ist.
Die Natur folgt keinem Masterplan
Die noch nicht ausgereiften Nutzungskonzepte hindern die Natur jedoch nicht daran, sich auch an diesen Orten frei zu entfalten. Kai Ellwert betont, dass eine Renaturierung dieser Flächen in der Zwischenzeit von ganz alleine geschehe - auch ohne menschliches Zutun.
Auch bei der Grube Greppin handelt es sich um eine solche Fläche. Bis 1989 wurden Teile von der Mitteldeutschen Sanierungs- und Entsorgungsgesellschaft (MDSE) rekultiviert und in den letzten Jahren mit kulturfreundlichem Boden abgedeckt. So soll verhindert werden, dass Niederschlag in den Grundwasserbereich gelangt und der Grundwasserspiegel ansteigt. Die wilde Natur breitet sich abseits des Zauns, der die Deponie umschließt, aus. Typische Pflanzen für solche offene Flächen sind Königskerzen. Aber auch andere Gewächse wie Silbergras, Flechtenarten und Heidekraut kommen gut mit den Gegebenheiten dieser Standorte zurecht, weiß Frank Koch. Was um die Grube Greppin an Tieren und Pflanzen zu finden ist, ist in einem Audiowalk zu hören.
Audiowalk "Läsuren" Mit den postindustriellen Schäden und Spuren der bitterfelder Landschaft setzt sich auch der im Rahmen des Osten Festivals Bitterfeld entstandene Audiowalk “Läsuren” auseinander. Der Walk führt durch das Gelände zwischen Greppin und dem Silbersee. Hier zu hören sind Aufnahmen, die an den Stationen Grube Greppin und Silbersee entstanden sind.
Mit dem Fahrrad nur zehn Minuten von der Grube Greppin entfernt, liegt die frühere Braunkohlegrube Johannes, besser bekannt als Silbersee. Lange Zeit wurden hier Chemieabfälle aus der Zellulosefabrik und der Filmproduktion abgelagert. Unter der 27 Hektar großen Fläche befinden sich 2,1 Millionen Kubikmeter giftiger Schlamm. Auch hier lassen Geräusche von Vögeln und Fröschen und das viele Grün fast vergessen, was unter der Oberfläche liegt.
Durch die laufende Verfüllung der Grube wird zurzeit verhindert, dass giftiger Schwefelwasserstoff austritt – ein entscheidender Faktor für Tiere und Natur. Nur durch diese Gegebenheit entpuppen sich Industriebrachen wie der Silbersee sogar als besonders interessante Biotope für Tiere, erklärt Frank Koch: "Da ist die Natur sehr flexibel." Das umzäunte Gelände biete Schutz vor Menschen, hier haben Tiere ihre Ruhe und bekommen die Möglichkeit, sich zu vermehren und einen neuen Bestand aufzubauen. So habe es dort zwischenzeitlich auch eine kleine Kormoran-Kolonie gegeben.
Bitterfeld ist noch immer Industriestandort
Dass geschädigte und vorbelastete Flächen wie die Gruben Greppin und Johannes nach deren Sanierung und Sicherung sich selbst überlassen und keiner Nachnutzung unterzogen werden, ist aber selten, räumt Ellwert ein. Denn auch heute ist Bitterfeld vor allem eins: ein Industriestandort. Ein Beispiel für eine sinnvolle wirtschaftliche Nachnutzung ist der Solarpark Bitterfeld-Holzweißig auf dem ehemaligen Gelände der Brikettfabrik Holzweißig. So müsse wenigstens keine unberührte Natur für die Bebauung nachhaltig geschädigt werden.
Frank Koch sieht als Naturschützer in solchen Standorten nicht nur Potenzial für eine wirtschaftliche Nachnutzung, sondern auch für die Natur: "Wir als Naturschutzverein haben weniger Zugriff auf Industrieflächen. Wir können nur wohlwollend beobachten, wenn sie vergessen werden und sich dort etwas von alleine entwickeln kann." Es komme auf ein Gleichgewicht zwischen natürlichen und wirtschaftlich genutzten Flächen an, so Koch.
Immerhin steht die Natur, die in den vergangenen Jahren um die Altdeponien entstanden ist, durch das Bundesnaturschutzgesetz unter Schutz. Bei jedem Eingriff in diese müssen Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen vorgenommen werden - menschliches Eingreifen in die Natur ohne Folgen ist so nicht mehr möglich. Bis sich entscheidet, wie es mit den alten Deponien weitergeht, wird und kann sich die Natur in dieser Zeit weiter entfalten.
Über die Autorin Hannah Diehl studiert seit Oktober 2021 den Master "Multimedia und Autorschaft" in Halle. Davor hat sie ihren Bachelor in Kommunikations- und Medienwissenschaften an der Universität Leipzig gemacht. Neben dem Studium übernimmt sie hin und wieder Social Media und PR-Arbeiten für den Leipziger Internetradiosender "Sphere Radio". Am liebsten recherchiert sie zu popkulturellen und gesellschaftlichen Themen.
MDR (Sarah-Maria Köpf)
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