MDRfragt Viele befürchten, dass Antisemitismus in Deutschland zunimmt
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08. Dezember 2023, 10:11 Uhr
Vor zwei Monaten überfielen Terroristen der Hamas Israel. Sie entführten, verletzten und töteten sehr viele Menschen. Noch immer sind Geiseln in ihrer Gewalt. Israel reagierte mit einer Gegenoffensive. Während die Spitzenpolitik ihre Solidarität mit Israel und den Schutz jüdischen Lebens betont, werden mehr antisemitische Vorfälle in Deutschland gemeldet. In einer aktuellen Befragung von MDRfragt gaben zwei Drittel an: Sie haben Sorge, dass sich der Antisemitismus hierzulande ausweitet.
- Viele befürchten, dass der Antisemitismus in Deutschland zunimmt.
- Die bisherigen Anstrengungen gegen Judenhass werden überwiegend als unzureichend angesehen.
- Aus Sicht eines Großteils Befragten sollte Deutschland diplomatisch auf einen dauerhaften Frieden in Nahost hinarbeiten.
Seit dem Terroranschlag durch die radikalislamische Hamas auf Israel vor zwei Monaten und dem seitdem herrschenden Krieg in Nahost mehren sich auch in Mitteldeutschland die Meldungen von antisemitischen Vorfällen. Wie aus dem aktuellen Meinungsbarometer von MDRfragt hervorgeht, haben auch zwei Drittel der mehr als 27.000 Befragten aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen den Eindruck, dass der Antisemitismus in Deutschland in den vergangenen Wochen zugenommen hat.
Viele sind besorgt, dass sich der Antisemitismus ausweitet
Ebenso viele Befragte haben Sorge, dass sich der Antisemitismus hierzulande ausweiten könnte. Knapp ein Drittel teilt diese Befürchtung eher nicht.
Befragte beklagen fehlendes Wissen und alte Vorurteile
Nicht alle Befragten sehen dabei das aktuelle Geschehen in Nahost als Haupttreiber dafür, dass sich antisemitische Wortmeldungen, Verschwörungsmythen oder Angriffe häufen. So schreibt Sandy (39) aus Leipzig: "Deutschland war leider nie wirklich 'nazi-frei'." Es habe immer Antisemitismus in Deutschland gegeben. "Leider haben diverse Krisen wie Corona, Ukraine-Krieg und jetzt der Nahe Osten diesen neuen Antisemitismus aufleben lassen, weil viele Menschen einen 'Sündenbock' brauchen, um komplexe Dinge in der Welt zu vereinfachen", so Sandy weiter.
Die MDRfragt-Teilnehmerin Ursula aus Halle sieht hingegen durchaus, dass der aktuelle Krieg auch antisemitische Vorurteile schürt: "Für die Lage der Palästinenser wird stets Israel allein verantwortlich gemacht. Die Shoah will man in Deutschland möglichst vergessen", beklagt die 69-Jährige und stützt sich auch auf eigene Beobachtungen: "Keiner meiner Gesprächspartner kennt sich in der Geschichte Deutschlands, geschweige denn Israels, aus. Es ist traurig!"
Ich glaube, der Hass im Netz trägt Früchte.
Für Andreas (64) aus dem Vogtlandkreis trägt auch die Kommunikation in den sozialen Netzwerken dazu bei, dass sich Antisemitismus ausbreitet: "Ich glaube, der Hass im Netz trägt Früchte."
Immer wieder findet sich die Perspektive, wie sie auch Thomas (52) aus Erfurt mit Blick auf die Befürchtung eines wachsenden Antisemitismus vertritt: "Durch den Zuzug von Geflüchteten sind viele Menschen nach Deutschland gekommen, welche aufgrund ihrer Herkunft eine negative Einstellung zu Juden und Israel haben. Gleichzeitig gibt es in Deutschland einen gewissen Bodensatz, welcher nach wie vor meint, dass im Dritten Reich nicht alles schlecht war. Eine potenziell gefährliche Mischung."
Von Barbara (73) aus Suhl kommt ein immer wieder genanntes Argument, das darauf abzielt, dass Kritik an israelischer Politik erlaubt sein müsse und nicht automatisch mit Antisemitismus gleichgesetzt werden dürfe. Sie schreibt: "Antisemitismus ist klar zu verurteilen. Aber die israelische Politik sollte auch von uns stärker infrage gestellt werden."
Tatsächlich kommt es vor allem darauf an, wie Kritik an politischen Entscheidungen des Staates Israel geübt wird. Wo die roten Linien verlaufen, kann im folgenden Beitrag nachgelesen werden:
Nicht alle Befragten glauben, dass der Antisemitismus in Deutschland in den vergangenen Wochen zugenommen hat – das heißt aber nicht, dass sie Judenhass für ein zu vernachlässigendes Problem halten: "Der Antisemitismus war nie verschwunden, weder in Deutschland noch in der Welt", so beispielsweise Michael (75) aus Dresden. Sein Argument: "Bei bestimmten Ereignissen kann man es aber sofort erkennen, deshalb meine ich auch, dass der Antisemitismus nicht zugenommen hat, sondern lediglich sichtbar wird."
Bisheriger Kampf gegen Antisemitismus für viele unzureichend
MDRfragt-Mitglied Siegfried (69) aus dem Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge beklagt, dass aus seiner Sicht Justiz und polizeilicher Staatsschutz schon zu lange nicht hart genug gegen antisemitische Taten vorgehen. Seiner Meinung nach gibt es in Deutschland Rückschritte im Kampf gegen Antisemitismus: "Wir waren in Deutschland schon mal sehr viel weiter. Der Antisemitismus ist nur Teil des gesamten Rechtsrucks in Deutschland. Aber die Politik hat viel zu lange nur zugeschaut statt zu handeln."
Damit gehört Siegfried zu den mehr als zwei Fünftel der Befragten, die finden, der Kampf gegen Antisemitismus geht in Deutschland nicht weit genug. Etwa jede und jeder Vierte sagt hingegen, die derzeitigen Maßnahmen seine ausreichend. Für etwa ein Zehntel der Teilnehmerinnen und Teilnehmer gehen die bisherigen Anstrengungen gegen Antisemitismus zu weit.
Viele MDRfragt-Mitglieder finden, es sei wichtig, alle Formen von Judenhass gleichermaßen in den Blick zu nehmen. So schreibt Torsten (50) aus Chemnitz: "Die Anstrengungen sollten gegen linken, rechten und antiisraelischen Antisemitismus gleichermaßen gehen." Und Joachim (79), der ebenfalls in Chemnitz lebt, meint, Antisemitismus "muss stärker bekämpft werden – und auch mal Demos verbieten. Des Weiteren bessere Aufklärung im Bildungsbereich über unsere Geschichte."
Und Christian (63) aus Dresden appelliert an die gesellschaftliche Verantwortung und Solidarität mit Menschen jüdischen Glaubens: "Unsere vordringlichste Aufgabe ist in diesem Konflikt, Juden in Deutschland zu schützen und ihnen eine sichere und vertraute Heimat zu bieten."
Deutsche Diplomatie sollte (dauerhaften) Frieden forcieren
In der Befragung zum Krieg in Nahost wollten wir unter anderem auch wissen, worauf die deutsche Außen- und Spitzenpolitik ihre diplomatischen Bemühungen besonders ausrichten sollte. Die meistgenannten Schwerpunkte fasst der Kommentar von Christian (39) aus dem Saale-Orla-Kreis gut zusammen: "Es sollte alles getan werden, um Krieg, kriegerische Auseinandersetzungen zu beenden und um zukünftig einen dauerhaften Frieden mit einer Lösung des Konfliktes zu erreichen! Dabei sollten immer die Handlungen beider Konfliktparteien betrachtet werden."
Denn ein Großteil der Befragten sagt: Die diplomatischen Beziehungen Deutschlands sollten darauf abzielen, ein Ende des Krieges zu erzielen. Mehr als die Hälfte votiert zudem dafür, dass der Nahost-Konflikt dauerhaft befriedet werden sollte.
Jede und jeder zehnte Befragte positionierte sich in dieser Frage nicht. Einen Grund dafür nennt etwa Roman (50) aus Leipzig: "Deutschland sollte sich neutral verhalten und Verhandlungen empfehlen."
Alle weiteren Ergebnisse der Befragung sind am Ende dieses Beitrags verlinkt und können heruntergeladen werden. Bei MDRfragt können sich alle, die in Mitteldeutschland leben und einmalig registrieren, beteiligen und einbringen. Die Ergebnisse sind deswegen nicht repräsentativ. Wir wichten sie jedoch nach wissenschaftlichen Kriterien, um die Aussagekraft zu erhöhen. Zudem ist es wegen der vielen Kommentare, mit denen die MDRfragt-Gemeinschaft ihre Position begründet, möglich, die Zahlen einzuordnen und nicht nur zu zeigen, wie sich die Befragten positionieren, sondern auch, warum sie das tun.
Über diese Befragung
Die Befragung vom 27.11. bis 04.12.2023 stand unter der Überschrift:
Krieg in Nahost - Wie weiter?
Insgesamt sind bei MDRfragt 65.945 Menschen aus Mitteldeutschland angemeldet (Stand 7.12.2023, 12:00).
27.078 Menschen aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen haben online an dieser Befragung teilgenommen.
Verteilung nach Altersgruppen:
16 bis 29 Jahre: 235 Teilnehmende
30 bis 49 Jahre: 3.407 Teilnehmende
50 bis 64 Jahre: 10.974 Teilnehmende
65+: 12.462 Teilnehmende
Verteilung nach Bundesländern:
Sachsen: 13.953 (51,5 Prozent)
Sachsen-Anhalt: 6.596 (24,4 Prozent)
Thüringen: 6.579 (24,3 Prozent)
Verteilung nach Geschlecht:
Weiblich: 10.717 (39,6 Prozent)
Männlich: 16.287 (60,1 Prozent)
Divers: 74 (0,3 Prozent)
Die Ergebnisse der Befragung sind nicht repräsentativ. Wir haben sie allerdings in Zusammenarbeit mit dem wissenschaftlichen Beirat nach den statistischen Merkmalen Bildung, Geschlecht und Alter gewichtet. Das heißt, dass wir die Daten der an der Befragung beteiligten MDRfragt-Mitglieder mit den Daten der mitteldeutschen Bevölkerung abgeglichen haben.
Aufgrund von Rundungen kann es vorkommen, dass die Prozentwerte bei einzelnen Fragen zusammengerechnet nicht exakt 100 ergeben.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | MDR AKTUELL | 07. Dezember 2023 | 11:48 Uhr